Bildende Kunst: Die Pandemie als Chance für einen neuen Anfang

Die Pandemie hat alle Kunst- und Kulturschaffenden stark getroffen: die Massnahmen haben mit unserem kulturellen Leben fast tabula rasa gemacht. Heute können wir langsam wieder aufatmen. Vielleicht ist diese Krise ja auch die Chance für einen neuen Anfang.

(Lesezeit: 7 Minuten)

Die Pandemie hat die Kulturbranche mitten ins Herz getroffen. Die kulturelle Stille der letzten Monate hat viele Aktivitäten in Frage gestellt. Vielleicht ein guter Augenblick, um grundsätzliche Fragen zu stellen: Hat jemand, ausser den betroffenen Arbeitskräften, diese kulturellen Veranstaltungen überhaupt vermisst? Wie wichtig ist die Kunst überhaupt in unserm Alltag? Brauchen wir noch das gleiche kulturelle Angebot wie vorher? Haben die Pandemie und die aktuellen Naturkatastrophen allenfalls unsere Vorlieben verändert?

Neonlicht-Installation auf der Aussenfassade des Kunstmuseums Reinhart in Winterthur (Quelle: siehe unten; Klick zum Vergrössern)

Kunst fühlen und hinterfragen

In der aktuellen Sonderausstellung zeigt das Kunstmuseum Reinhart am Stadtgarten Winterthur noch bis zum 5. September die Arbeit der walisischen Künstlerin Bethan Huws. Neben den künstlerischen Interventionen im Museum präsentiert Huws eine zweifache Neonlicht-Installation auf der Aussenfassade des Gebäudes. Auf der nördlichen Fassade erscheint der Satz «A work of art without emotion is not a work of art», und auf der Südfassade beim Stadtpark die Frage «Are you sure?» Die beiden Sätze sind getrennt, aber nicht unabhängig voneinander zu verstehen. Mit diesen Aussagen benutzt die Künstlerin den öffentlichen Raum als eine Art Denkraum. Sie macht uns bei der Herstellung und Interpretation von Kunst auf die treibende Kraft der Emotionen aufmerksam – und gleichzeitig auch auf die Notwendigkeit des analytisch-skeptischen Hinterfragens.

 

Die Kraft der Natur aufnehmen

Schwerpunkt meiner Reflektion sollen hier die Emotionen und ihre Schlüsselrolle in der Kunst sein. Eine ähnliche Maxime wie die erwähnte wurde auch dem französischen Maler Paul Cézanne zugeschrieben. Er sagte: «Ein Kunstwerk, das nicht in Emotionen beginnt, ist keine Kunst.» Cézanne wurde aus verschiedenen Gründen als Vater der Moderne bezeichnet. Einer davon ist seine Wahrnehmung der Natur und sein Versuch, Bilder mit derselben schöpferischen Kraft zu malen, wie er sie in der Harmonie der Natur beobachtete. Mit seiner Äusserung formuliert er einen  klaren Grundsatz für den Künstler, die Natur der Dinge zu empfinden und eine bloss gestalterische Reproduktion der Natur zu vermeiden. Dieses empfindsame Vorstellungsvermögen wurde später vom französischen Philosophen Merleau-Ponty in seinem Essay «Das Auge und der Geist» (1964) über die Phänomenologie der Wahrnehmung als das dritte Auge bezeichnet.

 

Die Bedeutung der Kunst

Die Kunst – aus jeder Sparte – ist eine Praxis, die nur den Menschen gehört und für sie gedacht ist. Aus jüdisch-christlicher Sicht liegt ihr Ursprung in religiösen Ritualen und Lehren, die wir schon im 2. Buch Mose 35,30-35 finden. Gott gibt dort den beiden Künstlern Bezalel und Oholiab durch seinen Geist die handwerklichen Fähigkeiten und Kenntnisse, um Kunstwerke aller Arten und mit unterschiedlichen Materialien zu erschaffen. Kunst ist hier das symbolische Darstellen und Vermitteln von geistlichen Wahrheiten für das Volk Israel.

Dieser Zusammenhang wurde mit dem späteren Säkularisierungsprozess und mit der Emanzipation der Künste bis in das 20. Jahrhundert zunehmend aufgegeben. Kunst wird heute als autonom gesehen. Eine Frage bleibt aber trotzdem bestehen: Wie sollen wir Kunst verstehen und nach welchen Kriterien können wir sie erläutern? 

Der Philosoph und Professor Georg W. Bertram beschreibt die Autonomie der Kunst als Paradigma der ästhetischen Differenz, die Suche nach der Spezifik beziehungsweise der Eigengesetzlichkeit von Kunst. Dieses Paradigma der ästhetischen Differenz entstehe dadurch, dass wir eine systematische Ordnung von Routinen und Gewohnheiten besitzen, in der jeder Gegenstand durch seine Funktion eine eigene Bedeutung bekomme und unsere Wahrnehmung der Welt präge. Sobald die Kunst diese Routinen und Gewohnheiten in Frage stelle, gebe es Komplikationen. Genau das mache die Spezifik ästhetischer Erfahrung aus, die zum grössten Teil von unseren Gefühlen gesteuert sei. Bertram erläutert die Spannung, in der wir uns selber befinden, in einem Vergleich mit Christoph Menkes Autonomie der Kunst als spezifische Erfahrung: Wir können die Bedeutung von Kunstwerken nicht umstandslos begreifen, weil die Konfrontation mit dem Material Kunst nicht mit einfachen Deutungsschemen erfolgen kann1.

 

Kunst ist mehr als ein Gefühl

Wenn für die Kunstschaffenden wichtig ist, Kunst aus den eigenen Empfindungen, Emotionen und Gedanken zu kreieren, gilt das Entsprechende auch für die Empfänger des Kunstwerkes: auch sie finden den Schlüssel zum Lesen der Kunst in ihren Gefühlen.

Kürzlich hatte ich mit meiner Frau ein Gespräch über die Relevanz der Kunst, besonders im Hinblick auf den damit verbundenen Zeit- und Kostenaufwand. Es kam eine Diskussion auf über die Spielregeln, welche die säkulare Kunstwelt dominieren. Es sind Spielregeln, die einerseits mit den biblischen Werten kollidieren und anderseits viel fragwürdige Kunst hervorbringen. Christ sein und gleichzeitig kunstberuflich tätig sein kann sich manchmal sehr konfliktgeladen anfühlen.Viele christlich motivierte Künstlerinnen und Künstler fühlen sich alleingelassen oder als Einzelkämpfer, wenn sie sich mit ihrer Berufung über Wasser zu halten versuchen. Viele von ihnen mussten sich spätestens in der Pandemie mit beruflichen, ökonomischen und familiären Schwierigkeiten auseinandersetzen.

Ich bin der Meinung, dass die Kunst für ihre Produzenten und Konsumenten nicht in erster Linie dazu da ist, sich wohl zu fühlen. Das wäre zu wenig. Historisch gesehen führten Phasen des Wohlstandes nicht selten zu einer dekadenten Kunst. Umgekehrt haben die Künste und die Menschen, die dahinter standen und noch heute stehen, gerade in harten Zeiten oft eine intensivere, tiefere oder sogar innovativere Auseinandersetzung mit der Kunst erlebt.

Sind wir bereit, gerade in dieser schwierigen Zeit, eine neue Vorstellungkraft und die entsprechenden künstlerischen Fähigkeiten zu empfangen? Sind unsere Herzen noch weich – oder sind sie schon irreversibel verändert? Und wenn ja, «are we sure»?

 

1 vgl. Menke, Die Souveränität der Kunst, S. 52-64

 

Literatur:

Bertram, Georg W.: Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik. Berlin, Suhrkamp, 2014

 

Bildquelle:

Bethan Huws: A work of art without emotion is not a work of art / Are you sure?, 2020/21, Neonleuchtschrift, Kunst Museum Winterthur

https://www.kmw.ch/press/bethan-huws-gewinnt-internationalen-kunstwettbewerb-des-galerievereins/ (22.7.2021)

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