Kirche: Sorgfältige Übersetzungsarbeit

Das Evangelium übersetzen – darin sehen sich die Reformierten als Meister, als jene, die mit der Zeit gehen. Bei allem Selbstlob vergessen sie zu leicht, was beim Übersetzen verloren geht.

(Lesezeit: 8 Minuten)

Rita Famos, die neue Präsidentin der Evangelischen Kirche Schweiz (EKS), artikulierte am 23. März in der Zürcher Kirchensynode ihr reformiertes Selbstbewusstsein: «Dank der stetigen und offenen Auseinandersetzung mit den gesamtgesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Entwicklungen konnte die reformierte Kirche beispielsweise ihr Schriftverständnis klären und wurde so fähig, mit den Fragen der Neuzeit in einen konstruktiven Diskurs zu gehen.» Nicht zufällig, so Rita Famos, hätten die Reformierten als erste Kirche Frauen ordiniert. Auch die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare sei bereits eingeführt worden.

 

Genau hinhören oder einfach übersetzen?

Ihr sei bewusst, sagte die seit Januar amtierende EKS-Präsidentin weiter, «dass diese und viele weitere Entscheide nicht ohne Diskurs und Ringen gefällt wurden und gefällt werden. Aber genau darin sehe ich die Kraft und die Zukunftsfähigkeit unserer reformierten Kirche: In der Disputfähigkeit und in der Vielfalt zeigt sie ihren Willen und ihre Fähigkeit, auf Gottes Wort zu hören und das Evangelium immer wieder in die heutige Zeit zu übersetzen.»

Das Hören auf Gottes Wort ist für die Reformation die Grundlage jeder Theologie. Diesem genauen Hinhören macht seit dem 18. Jahrhundert das «Übersetzen» Konkurrenz. Und dies zunehmend unverschämt, manchmal gar dem Bibeltext gegenüber übergriffig. Das «Übersetzen» schloss von Anfang an die Freiheit ein, biblische Aussagen wegzulassen, die nicht zum Zeitgeist passten. Manche Theologen strichen damals all das aus dem Evangelium heraus, was die Vernunft der Aufklärer nicht akzeptieren wollte: Wunder – wie die Auferstehung –, Jesus als Sohn Gottes, die Jungfrauengeburt und vieles mehr.

Hans Heinrich Corrodi (1752-1793), der diese Art von Theologie nach Zürich brachte, empfahl, die Leute sollten nicht die ganze Bibel lesen. Es genüge, wenn man ihnen einen wissenschaftlich gereinigten Auszug geben würde! Dem Neutestamentler Rudolf Bultmann (1884-1976) war es unmöglich, als moderner Mensch an die in der Bibel berichteten Wunder zu glauben. Mit dem – in der Physik schon lange überholten – Determinismus des 19. Jahrhunderts prägte er nach dem Zweiten Weltkrieg eine ganze Theologen-Generationen – mit verheerenden Folgen für die Verkündigung des Evangeliums im deutschsprachigen Raum, die bis heute spürbar sind.

 

Alles hängt am Zusammenhang

Mal abgesehen vom Weglassen unpassender Aussagen: Was genau geschieht beim Übersetzen? Ein Begriff, eine Metapher, ein Motiv oder eine Begebenheit werden aus dem biblischen Zusammenhang herausgelöst, weil dieser heute angeblich fremd, einer lang vergangenen Kultur zugehörig und somit nicht mehr verständlich ist. Dieses Herauslösen wird allerdings dem Ausgangstext nicht gerecht. Denn Bedeutung ergibt sich, vereinfacht gesagt, immer durch Zusammenhänge.

Die Aussagen über die altisraelitische Gesellschaft etwa sind immer im Kontext des Bundes zu verstehen, den Gott damals vom Sinai herab mit den zwölf Stämmen schloss. Wer diesen Zusammenhang ausradiert oder anderswie vergessen macht, der verzerrt und verdreht Aussagen des Alten Testamentes. Gott schenkt seinem Volk Heil. Diese Tatsache wird aus dem Rahmen herausgebrochen: aus der Erfahrung, dass Gott einen Bund gestiftet hat – und dies mit Vorgaben. Biblische Grundbegriffe wie Gnade und Wahrheit, Treue und Liebe können nur im Zusammenhang dieses Bundes richtig verstanden werden. Anders geht es nicht.

Der Religionsphilosoph Hartmut von Sass sagte in einem Gespräch mit dem Landeskirchen-Forum: «Die Erwartung, dass es säkulare Übersetzungen gibt, leistet im Grund der Ent-Kontextualisierung der religiösen Sprache, Rituale und Bilder Vorschub. Es ist die Erwartung, dass man sie herausnehmen kann und sie – ohne sie zu beschädigen – in einen anderen Kontext setzen kann, damit sie endlich verständlich sind und dann den Rechtsstaat oder was auch immer befördern.»

Für von Sass ist es also genau umgekehrt: Übersetzungen werden unverständlich, wenn man den Kontext wegnimmt. Denn «Dinge haben ihre Einbettung in eine bestimmte Umgebung. Texte haben Kontexte. Wenn man mit religiösen Texten so umgeht, dass sie aus ihrem Kontext, auch dem kirchlichen Kontext und einer konkreten Praxis – der Sakramente, des Gottesdienstes, des religiösen Lebens einer Gemeinschaft – herausgenommen werden, damit sie für ein anderes soziales System, etwa den Rechtsstaat, irgendwie funktionabel gemacht werden, ist das ein fatales Missverständnis.»

Christen wird geraten, ihr Engagement für Randständige nicht mehr damit zu begründen, dass jeder Mensch im Bild Gottes geschaffen ist. Mit dieser Begründung würden sie nicht mehr verstanden, da im öffentlichen Diskurs von der Nicht-Existenz Gottes ausgegangen werde. Doch wenn Christen ihre Überzeugung «übersetzen», indem sie diese in eine rein säkulare Sprache kleiden und nur noch von den Grundrechten des Menschen reden: Was unterscheidet sie dann noch von Humanisten? Wie können sie dann noch ihre Passion als Gläubige einbringen? Und sie der kalten Funktionalisierung der Argumente entziehen?

 

Liebe – falsch übersetzt

Ein eklatantes Beispiel für eine Fehl-Übersetzung durch Entkontextualisierung gibt das Hauptwort des christlichen Glaubens her: Liebe. Wer diesen Beitrag liest, weiss, wie heute auf Rechte für jene gepocht wird, die «einander lieben». Gemeint ist in aller Regel erotische, begehrende Liebe. In einem Papier haben Theologen 2019 aus einer «Maxime der Liebe Gottes» gefolgert, zwei «liebenden, mündigen Menschen» könne ein kirchlicher Segen nicht verweigert werden. 

Liebe ist mehr als ein Wort (Bild: James Chan auf Pixabay).

Wen kümmert es, dass im griechischen Urtext des Neuen Testaments das Wort eros kein einziges Mal vorkommt? Agape ist das Wort des Neuen Testamentes für Liebe – 116 mal. Die biblischen Autoren machen klar: Gott hat uns zuerst geliebt und Christus zu unserem Heil gesandt. Wir lieben ihn, wenn wir seine Gebote halten1. Nun aber wird das Neue Testament, das Liebe durchgehend als agape versteht, für die Forderung, eros zu segnen, funktionalisiert – ja, ich meine: missbraucht.

 

Zentralbegriffe – anders gefüllt

Es wäre eine lohnende Forschungsarbeit zu zeigen, wie der Begriff «Treue» im Lauf der letzten Jahrzehnte aus dem biblischen Zusammenhang gelöst und inhaltlich anders gefüllt worden ist. Die alte Praxis von «Treu und Glauben» leidet darunter. Das darauf beruhende Gemeinwesen hat das Nachsehen, wenn Zentralbegriffe der abendländischen Zivilisation aus ihrer ursprünglich biblischen Verankerung gerissen werden.

Die «Maxime der Liebe Gottes» scheint dazu zu führen, dass «Gott» gutheissen muss, wozu freie, mündige Menschen sich entschliessen. Denn der christliche Gott ist gnädig und verzeiht. Wird dies – in Missachtung des ganzen Neuen Testamentes – so verabsolutiert, dass er gar nicht mehr anders kann, als Menschen anzunehmen? Wird der Begriff «Gnade» übersetzt werden als «Inklusion» – weil niemand ausgeschlossen werden darf?

 

1  1. Johannes 4, Johannes 3 und 15

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Kommentare

Peter Opitz schreibt
am 30. Juli 2021
Lieber Peter, du machst auf ein Grundproblem des Christentums aufmerksam: Die ganze Kirchengeschichte ist eine einzige Geschichte der "Übersetzung" des Evangeliums, auch im Sinne einer Verbiegung und subjektiven Anpassung an eigene Wünsche und Vorstellungen. Je mehr man die "biblische Wahrheit" auf seiner Seite sieht, umso blinder ist man für solche eigene Verdrehungen, so scheint es mir. Das gilt für das konstantinische Zwangschristentum ebenso wie für kleine Freikirchenprediger und -gläubige. So meine kirchengeschichtliche Beobachtung und auch persönliche Erfahrung. Die römische Kirche wollte die Verbreitung der Bibel verhindern, damit das möglichst nicht passiert und die Kirche eine Einheit im Glauben bleibt. Die Reformatoren waren der Meinung: Das ist nicht der richtige Weg: Die Bibel gehört in die Hände aller, und es gibt nicht eine einzige für alle verbindliche Übersetzung und Interpretation. Die Folgen sehen wir, es sind die Folgen der Freiheit, wie sie im Zeitalter der Aufklärung noch erheblich verstärkt wurde: Freiheit zum Glauben, zum Nichtglauben, zur ernsthaften Suche nach dem Sinn der Bibel, zur bewussten Verdrehung ihrer Botschaft, zum missionarischen Versuch, sie für "moderne Menschen" schmackhaft zu machen und sie gerade so entscheidend zu verkürzen. Wenn wir das nicht wollen, gibt es nur eine Alternative: Zurück zum mittelalterlichen Zwangschristentum mit der Verfolgung von die Einheit zerstörenden Ketzern und Waldensern im Namen Gottes. Abgesehen davon, dass diese Option nur theoretischer Natur ist, scheint sie mir nicht wünschenswerter und erst recht nicht dem Evangelium gemäss zu sein. Es bleibt also nur übrig, die Pluralität auszuhalten, auch innerhalb der reformierten Kirche. Ich vermute, hinter deinem etwas polemischen Ton stecken schmerzliche Erfahrungen mit Menschen, die sich als reformiert bezeichen, aber in manchen Punkte ganz anders denken als du. Ich selber habe genügend solche Erfahrungen, zu meiner "linken" und zu meiner "rechten". Andererseits: Geht des den Katholiken etwa anders? Wieviele schmerzliche Trennungen und Streitereien um die Bibelauslegung gibt es im freikirchlichen Bereich bereit seit den ersten Täufern? Die Entscheidung der Reformatoren beruhte auf der biblischen Botschaft, dass Gott Mensch wurde und sich damit ganz bewusst der Zweideutigkeit, Missdeutungen und dem möglichen Missbrauch ausssetzte. Die Evangelien berichten auf jeder Seite davon. Welcher Jünger hat Jesus richtig und uneigennützig verstanden? Und zugleich waren die Reformatoren erfüllt (und dies keineswegs immer gleich stark, auch sie waren Menschen) vom Vertrauen, dass gerade dies der Weg war, den Gott gewählt hat, und dass es sein Geist ist, der inmitten all dieser Unordnung (gerade auch in den Kirchen) sich selber immer wieder Gehör und Glauben schafft, und nicht nur gottlose Säkulare, sondern auch egoistische und pharisäische Fromme erneuert und zu sich bekehrt. Nur Gott allein kann uns retten, das gilt ohne Ausnahme. Weil dies die Grundüberzeugung (nicht nur, aber besonders) der "reformierten" Tradition und Kirche ist, bin ich überzeugter "Reformierter", nicht, weil die "Reformierten" etwas Besonderes geleistet hätten – und ich bin sicher, Rita Famos sieht das ähnlich. Und ehrlich gesagt: Hätte ich nicht diesen Glauben, wäre ich niemals freiwillig Mitglied einer Kirche. Die Kirche, so schon Luther präzise, ist "die Gemeinschaft von Widereinandergesinnten." Also: Aushalten, ertragen und vertrauen: DEIN Reich komme.
Peter Schmid schreibt
am 3. Juni 2021
Übersetzungen, welche Wörter und Ausdrücke möglichst genau und einheitlich übersetzen und den Satzaufbau des Urtexts weitgehend abbilden, sind zu unterscheiden von Übertragungen, die mit gut verständlichen Ausdrücken in heutiger Sprache die Absicht der Autoren wiederzugeben versuchen und die ursprüngliche Satzgestalt oft nicht mehr erkennen lassen.
Unter den Übersetzungen sind wertvoll: Luther (traditionell), die Zürcher Bibel (manchmal frei), die revidierte Elberfelder und die Neue Genfer Übersetzung (oft ausführlich, um den Sinn zu verdeutlichen). Doch gibt es Wörter und Ausdrücke der Ursprachen, die keine genaue deutsche Entsprechung haben. Sie können in guten Treuen so oder so übersetzt werden,
Kari Ulrich-Stähli schreibt
am 3. Juni 2021
Lieber Herr Schmid
danke für den interessanten Bericht. Gibt es heute noch eine Bibelübersetzung, die grossteils dem Urtext entspricht?