Wohnen/Architektur: Gemeinschaftliches Wohnen in einer individualistischen Zeit

Wir leben in der postmodernen Zeit – Individualismus und Pluralismus bestimmen unsere Gesellschaft. In der Architektur zeigt sich dies in einer Vielzahl von Baustilrichtungen und einem Revival von früheren Stilen, etwa aus der Zeit des Historismus. Gleichzeitig hat in der Zwischenzeit die klassische Moderne Einzug gehalten. Diese Vielfalt zeigt sich auch beim Wohnen und bei neuen Wohnformen.

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Die Bedürfnisse ans Wohnen haben sich in den letzten 60 Jahren vervielfacht. Es gibt für jede Art von Bevölkerungsgruppen das passende Angebot von Wohnungen. Diese werden nicht mehr für eine bestimmte Normgruppe konzipiert. Die neue Diversität ist eine gute Entwicklung, denn so werden alle in ihren Bedürfnissen ernst genommen. In diesem Beitrag möchte ich den Fokus auf das gemeinschaftsorientierte Wohnen richten. In der erwähnten Vielfalt an Wohnformen ist dies ein Nischenprodukt, das aber zunehmend Anklang findet. Dazu picke ich drei Beispiele heraus, die in Zürich und Winterthur gebaut worden sind.

 

Mehr als Wohnen

Die Genossenschaft «Mehr als Wohnen» realisierte im Gebiet Zürich-Leutschenbach eine innovative Wohnsiedlung. In 13 Wohn- und Gewerbebauten gibt es 450 Wohnungen, in denen 1300 Leute leben: Familien, Studierende, ältere Menschen, Menschen mit Behinderung, Singles bis hin zu Menschen mit Migrationshintergrund. In dieser Siedlung hat das gemeinschaftliche Miteinander einen grossen Stellenwert. Es gibt auch Cluster-Wohnungen1 für alle, die gerne miteinander wohnen wollen. Über besondere Plattformen können sich alle Einwohnerinnen und Einwohner untereinander austauschen und einander auch Geräte oder Fonduepfannen etc. ausleihen. Die Überbauung trägt der 2000-Watt-Gesellschaft Rechnung: sie schont Ressourcen, ist autofrei und verfügt über grosszügige Veloräume. Zudem gibt es hier auch eine Kita, einen Kindergarten, eine Werkstätte für Behinderte, Gemeinschaftsräume, ein Restaurant und ein Gästehaus2.

 

Eine Köchin für 50 Leute

Die Genossenschaft Kalkbreite nimmt solche Ideen auf und realisierte sie in ihrer ersten Überbauung mit 88 Wohnungen für ca. 250 Personen in Zürich-Kalkbreite. Zusätzlich gibt es hier einen Grosshaushalt mit etwa 50 Personen und mit einer Köchin, die für alle kocht. Viele gemeinschaftlich benutzte Aussenräume kennzeichnen diese Überbauung.

Im neuen Zollhaus an der Zollstrasse in Zürich entsteht zudem im Auftrag der gleichen Genossenschaft eine weitere Überbauung. Hier wird die Idee des gemeinschaftlichen Wohnens mit dem Angebot von vier Wohnhallen mit je 40 bis 250 m2 Fläche weiterentwickelt. Es ist interessant zu sehen, wie die Erwachsenen, teilweise auch mit Kindern, diese 4,10 Meter hohen Räume untereinander aufteilen3. Zudem gibt es auch Angebote, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind: ein Sprechtheater nebst einem originellen Restaurant und einer Bar. In den Büros und Gewerberäumen hat eine Vielzahl von Nutzungen Platz gefunden: so das Architekturforum, ein Blumenladen, ein Chornladen, ein Faire-Mode-Laden, das Regenbogenhaus, ein medizinisches Zentrum u.a.4.

Gemeinschaftlich wohnen in der Winterthurer Siedlung Townvillage (Bild: eins Architekten AG, Klick zum Vergrössern)

Ganzheitlich christliches Zusammenleben

In einem christlichen Kontext ist in Neu-Hegi, Winterthur die Siedlung «Townvillage», eine gemeinschaftsorientierte Überbauung mit 61 Wohnungen für ca. 150 Personen entstanden. Damit wurde eine Vision von Johannes Wirth, Senior Pastor der Freikirche «Gemeinde von Christen» (GvC) umgesetzt. 

Die Bauträgerschaft setzt sich zusammen aus der Quellenhofstiftung5 und der erwähnten Freikirche. Knapp die Hälfte der Bewohnenden sind 60 plus, dazu kommen Familien, junge Erwachsene, Singles sowie zwei Flüchtlingsfamilien. Etwa die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner gehört zur GvC, die in dieser kompakten Überbauung auch ihren Mehrzwecksaal hat, der sich bei Bedarf zur Kirche umnutzen lässt. In den übrigen Zeiten wird dieser grosse Saal für Theateraufführungen und Versammlungen auch von säkularen Trägerschaften benutzt. Zudem gibt es eine Werkstätte für die Quellenhofstiftung, ein Restaurant, eine grosse Cateringküche, eine Spitex, ein Gesundheitszentrum und eine 24/7-Réception6.

 

Die Sehnsucht nach dem Dorf

In unserer so stark vom Individualismus geprägten Zeit zeigen diese drei Beispiele auf, dass es ein Bedürfnis für gemeinschaftliches Wohnen gibt, für ein «dörfliches» Miteinander, wie es im Namen «Townvillage» zum Ausdruck kommt. Ein Teil der grossen Zahl von Singles in der Schweiz, aber auch Menschen aus der älteren Bevölkerungsgruppe und von Kleinfamilien fühlen sich mit isoliertem Wohnen nicht mehr wohl.

Die klassischen Altersheime werden in Zukunft an Zustrom verlieren, nicht zuletzt auch wegen der Corona-Situation. Und schliesslich kommen auch die 68er ins Alter. Sie sind es gewohnt, in Wohngemeinschaften zu leben. So wird es in Zukunft mehr innovative gemeinschaftsorientierte Wohnangebote geben.

Es gilt dabei, die Spannung zwischen dem Miteinander und dem Rückzug zu finden. Hier sind die Architekturbüros gefragt, um diesen Bedürfnisse baulich gerecht zu werden.

 

Das Miteinander fördern

Aber auch in ganz normalen Mehrfamilienhäusern und Einfamilienhausquartieren kann es ein Für- und Miteinander geben. Gemeinschaftsorientierte Überbauungen regen an, sich noch intensiver mit den Nachbarn auseinanderzusetzen und füreinander da zu sein. Das ist herausfordernd aber auch wohltuend in einer Gesellschaft, die zunehmend auseinanderdriftet und in der die Liebe untereinander zu erkalten7 scheint.

Halten wir diesem Trend entgegen. Wo immer wir persönlich wohnen, lasst uns Salz sein8 und Jesus Christus gemäss leben.

 

1 Die sogenannte Clusterwohnung ist eine Kreuzung zwischen einer Wohngemeinschaft (WG) und einer Kleinwohnung. Jede Person hat ihr eigenes Zimmer, die Küche gehört allen. Anders als bei einer WG verfügt jedes Zimmer über Bad und Kochnische. Man kann für sich alleine sein und doch auch Gemeinschaft pflegen, somit also individualistisches und gemeinschaftliches Wohnen kombinieren. Dies ist eine neue WG-Wohnform, die unserer heutigen individualisierteren Zeit angepasst ist.

2 www.mehralswohnen.ch

3 siehe dazu das Video «anders wohnen» (SRF Dok) unter: https://www.youtube.com/watch?v=DAls4HZfXfg oder https://www.srf.ch/sendungen/dok, suche «Anders Wohnen»

4 www.kalkbreite.net

5 www.quellenhof-stiftung.ch

6 www.townvillage.ch

7 Matthäus 24,12

8 Matthäus 5,13

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