Philosophie: Vom Sinn und Unsinn des Nachsinnens über Corona

Michel Houellebecqs Prophezeiung vom Mai 2020, dass die Welt nach der Pandemie «dieselbe sein [werde], nur ein bisschen schlechter», fasst trocken zusammen, womit – kaum ein Jahr später – zu rechnen sein wird. Tatsächlich nimmt sich diese Bilanz bescheiden aus gegenüber den zahlreichen Mutmassungen und Gedanken, die von philosophischer und kulturkritischer Seite in Feuilleton, Buchform oder online in den letzten zwölf Monaten zum Thema Covid-19 formuliert wurden. 

Auch wenn bei der Abfassung dieses Textes just ein Jahr nach der ersten nun eine dritte Welle anzurollen und damit das «Ganze» mitnichten vorbei scheint, so sei doch die Frage gestattet, ob es sich überhaupt lohnt, dem ermüdenden Horror des Faktischen noch ein Mehr an Einsicht abtrotzen zu wollen, indem man sich des Nachdenkens darüber befleissigt. Dies ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass der Wunsch nach der alten Normalität, die Sehnsucht nach dem Status Quo Ante inzwischen einen derart grossen Ennui gegenüber den Verhältnissen verursacht hat, dass man sich doch fast lieber «dieselbe» Welt, selbst «ein bisschen schlechter», zurückwünscht, als eine, die sich durch dieses beispiellose Jahr ebenso beispiellos verändert haben könnte.

Nachsinnen an der juristischen Fakultät der Humboldt-Universität in Berlin (Bild: Wikipedia)

Philosophische Projektionen

Es hat vielleicht auch etwas damit zu tun, dass fast allen philosophischen Einlassungen zu dieser Thematik gemeinsam ist, dass aus der unabgeschlossenen Gegenwart heraus ein in seiner Dimension schwer fassbares, komplexes Ereignis wie diese Pandemie als Projektionsfläche der eigenen Vorannahmen herhalten muss. Wer wie der Soziologe Hartmut Rosa Beschleunigung und Resonanz theoretisch im Blick hat, sieht die ausgedehnten Phasen gesellschaftlichen Stillstands als Chance zur «Entschleunigungserfahrung». Wem es wie Giorgio Agamben um die bioethische Frage nach dem «nackten Leben» bestellt ist, findet in dem sich entfaltenden Herrschaftsregime des Überwachungsstaates den Versuch, den dauerhaften Ausnahmezustand zur politischen Norm zu machen.

Als einer der Schnellsten warf der medial breit aufgestellte slowenische Philosoph Slavoj Žižek, seines Zeichens Post-Marxist, Neo-Lacanianer, christlicher Atheist, Linkshegelianer, in allem aber vorwiegend unorthodox, selbstironisch und selbststilisiert kauzig, bereits im April 2020 ein schmales Bändchen mit spekulativen Glossen und dem Titel «Pandemic!: COVID-19 Shakes the World» auf den Markt, die, abgesehen von recht steilen, mal pessimistischen, mal optimistischen Prognosen zwischen Barbarei und Katastrophenkommunismus, Entfremdung und Solidarität, heute zumindest in diesem einen noch wahrscheinlich erscheinen: der Status Quo Ante, genauer, die ihn tragende bürgerliche Ideologie, hat irreparablen Schaden genommen. Doch wie sehr und was das heisst, wissen wir nicht.

Ganz anders ein im Februar 2021 in der Financial Times erschienener Essay des israelischen Historikers Yuval Noah Harari «Lessons from a Year of Covid». Bereits dessen Titel insinuiert, dass alles vorbei wäre. Auch Harari ist ein sich medial gut inszenierender Zeitgeistintellektueller der Bestseller-Listen. Und auch bei ihm dient die Pandemie primär der Affirmation der bereits in seinen Büchern etablierten Gedanken: Der technologische Fortschritt habe eine neue Phase der Menschheit eingeleitet und damit die systemisch vernetzte globale Gesellschaft in ihren Parametern so verändert, dass unsere klassischen Kategorien von Nation, Staat, Recht, Ethnie, Glaube, Bildung, Handel etc. auf dem Prüfstand stünden. Dahingehend ist Harari vorsichtig optimistisch. Dieser Fortschritt hätte uns geholfen, die Pandemie schneller zu meistern als andere Epochen. Sie habe aber die benannten systemischen Schwächen deutlicher hervortreten lassen, Veränderungen beschleunigt und erzwungen. Im Unterschied zu Žižek ist Harari weder Dialektiker noch Ideologiekritiker. Wie in seinen populären Büchern erscheint der deskriptive Teil seiner «Lektionen» solide. Normativ bleiben sie jedoch dünn, denn der Appell politisch aus der Katastrophe zu lernen, muss verhallen, wenn Politik euphemistisch die «Kunst des Machbaren» bleibt, das «Machbare» sich aber nur positivistisch und technologisch fassen lässt, die wesentlichere Frage, wie wir eigentlich leben wollen, aber nicht berührt wird.

Wir denken zu langsam

Das im Eingangsbereich der Humboldt-Universität Berlin prangende Diktum von Karl Marx «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern» ist vermutlich zu Recht aus der Zeit gefallen. Die Welt gestaltet sich in vielerlei Hinsicht zu komplex, zu interdependent, zu multipolar, zu asymmetrisch und asynchron als dass Handlungsanweisungen von philosophischer Seite zu erwarten wären. Die durch die Pandemie und unseren politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen, technologischen und kulturellen Umgang mit ihr aufgeworfenen Fragen sind nicht mit der gleichen Geschwindigkeit zu beantworten, mit der das Virus sich durch die Welt zu fressen scheint. Sehr wahrscheinlich sind die entscheidenden Fragen in diesem Zusammenhang noch gar nicht gestellt worden. Zumindest legt das der Umstand nahe, dass viele Intellektuelle die Pandemie eher im erwartbaren Rahmen zur Bestätigung ihrer bereits bekannten Thesen heranzogen, ein zwischen den Zeilen aufscheinendes Eingeständnis, das Geschehen eigentlich gar nicht fassen zu können.

Trotzdem: Nachdenken ist sinnvoll

Aus dieser Perspektive erscheinen philosophische Interpretationen der Pandemie wie das, was Theodor Lessing über die Geschichtsschreibung meinte: als «Sinngebung des Sinnlosen». Dass das Virus sich weder um menschliche Pläne und Sinnhaftigkeit noch um Ideologie und Parteizugehörigkeit schert, ist hinreichend oft genug betont worden. Das Nachsinnen darüber wird aber dadurch nicht sinnlos, weil nach Sinn zu streben essenzieller Bestandteil des Menschseins ist. Unsere menschlichen Reaktionen sind sehr wohl das Resultat unserer eigenen Sinnstiftungsprozesse – individuell wie kollektiv. Das schliesst den Glauben an eine überzeitliche Wahrheit ein, das Ringen um letzte Fragen, um eine Seinsgrundlage, die das Leben bejaht und sich die Hoffnung auf eine versöhnte Welt nicht absprechen lassen möchte.

Nachdenken über die seelische Gesundheit in Corona-Zeiten (Bild: Hanspeter Schmutz, Klick zum Vergrössern)

Eine der in der Pandemie wesentlichen Fragen ist die nach der Güterabwägung. Im Allgemeinen geht es dabei um das Aufrechnen von ökonomischen Kosten gegenüber gesellschaftlichem Nutzen. Im Besonderen wird dies v.a beim Thema der Triage deutlich, die wie kaum eine andere die Sinnhaftigkeit unserer Verhältnisse berührt. Wer verdient, am Leben gehalten zu werden, wenn die medizinischen Ressourcen nicht reichen? Wie anders als über die Frage nach Sinn und Wert des Lebens kann da entschieden werden? Und wenn Sachzwänge den Entscheidungsspielraum einengen, dann muss das Nachdenken dort einsetzen, wo Sachzwänge ihren Ursprung haben: In unserer allzu menschlichen Einrichtung der Welt, mithin selbst Resultat dessen, was wir für sinnvoll und sinnlos erachten. In guten wie in schlechten Zeiten.

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