Thema: Wenn die Kirche das Dorf entdeckt

Die meisten Freikirchen befinden sich in der Stadt. Viele ihrer Mitglieder leben aber auf dem Land. Corona hat den Trend zurück aufs Land noch verstärkt. Höchste Zeit also, sich zusammen mit dem Missiologen Johannes Reimer Gedanken zu machen, wie vor Ort christliche Gemeinschaften entstehen und wie diese ihr Dorf heilsam prägen können.

(Lesezeit: 8 Minuten)

Johannes Reimer, Professor für Missionswissenschaft und Interkulturelle Theologie an der Theologischen Hochschule Ewersbach, doziert vor seinen Studierenden über Gemeindebau und Evangelisation; gleichzeitig lebt er aber auch, was er sagt. 

Er war Mitglied einer Gruppe aus zwei Ehepaaren und fünf Freunden, die sich 1999 entschloss, in der 1891-Seelen-Gemeinde Brüchermühle (Teil von Reichshof, Nordrhein-Westfalen) eine christliche Gemeinde zu gründen. Die Infrastruktur des Dorfes war damals noch einigermassen intakt, der Zerfall hatte aber bereits begonnen. Das Ziel der Gruppe war es nun aber nicht, «ein attraktives Gemeindezentrum mit frommen Programmen aufzubauen», sie wollte «die Verbreitung des Evangeliums und das Transformieren der Gesellschaft vor Ort» (S. 44) fördern. Diese Verbindung von Gemeindebau und dem missionarisch-diakonischen Eingreifen in die unmittelbare Umgebung ist der rote Faden dieses bemerkenswerten Buches1.

 

Eine Kirche für das Dorf

Ausgangspunkt der Gruppe war die Orientierung an den Begabungen der einzelnen Mitglieder – und zwar im Abgleich mit den Bedürfnissen und Nöten der Dorfbevölkerung. In dieser Schnittmenge lag für sie ihr Auftrag und Dienst. Die kleine freikirchliche Gemeinschaft verliess deshalb bewusst die privaten Wohnzimmer und zog um in öffentliche Räume. Sie begann eine Arbeit unter Drogenabhängigen, von Anfang an vernetzt mit Bewährungshelfern und den zuständigen Ämtern.

Schon nach wenigen Monaten legte die kleine Gruppe dem Bürgermeister den Entwurf «einer Kirche fürs Dorf» (S. 45) vor. Unter anderem mit dem Vorschlag, das zerfallende alte Schwimmbad in ein Gemeindezentrum zu verwandeln, das nicht nur der Freikirche dienen, sondern auch zu einem Ort für das gesellschaftliche Leben des Dorfes werden sollte. Im Konzept waren deshalb Outdoor-Aktivitäten wie eine Grillstelle, ein Spielplatz und ein Volleyballplatz vorgesehen. «Es sollte ein Dorfzentrum entstehen, das als säkularer Treffpunkt in der Woche auf die Bedürfnisse der Dorfbewohner eingestellt ist und am Sonntag einen Gottesdienst anbietet» (S. 45). Hier erhielt der lokale Fussballverein Räume, der Gesangsverein konnte Konzerte aufführen, es gab schon bald eine Musik-, Ballet- und Malschule für Kinder, Kurse für Jugendliche ohne Schulabschluss, eine Beschäftigungsgesellschaft für Arbeitslose und Gymnastikkurse für Frauen.

Diese Angebote wurden nicht nur von Christen erbracht, sondern zusammen mit der ganzen Dorfbevölkerung gestaltet. Die Freikirche wollte eine Gemeinde für die Menschen vor Ort sein, eine «Gemeinde für andere» (S. 46). Ihre Mitglieder machten deshalb im Bürgerverein mit, spielten im lokalen Fussballklub und die Freikirche trat als Sponsor für den Sportverein des Dorfes auf. So wurden Kontakte geknüpft, Interesse und Offenheit für den Glauben geschaffen und Berührungsängste gegenüber der Kirche abgebaut.

Einschreiben für den Dorfentwicklungsprozess in Oberdiessbach (Bild: Hanspeter Schmutz

Fruchtbare Beziehungen

Die Frucht dieser Kombination aus kirchlichem Gemeindebau und einer werteorientierten Ortsentwicklung lässt sich sehen. Innert sechs Jahren schlossen sich 251 Menschen dieser christlichen Gemeinde an, wovon 214 dort zum Glauben kamen und sich taufen liessen. Übertritte bzw. Überweisungen aus anderen Kirchen waren konzeptionell nicht vorgesehen.

Als entscheidender Faktor erwies sich die gute Beziehung zwischen Christen und Noch-nicht-Christen. In einer Welt, in der viele Noch-nicht-Christen inzwischen annehmen, dass Gott sie ablehnt, ist es wichtig, eine andere Botschaft zu vermitteln, sagen die Initianten dazu: «Wir wollen Menschen helfen, den Kontakt zu einem Gott zu suchen, der sie sucht und ihre Freundschaft begehrt» (S. 48). Dafür braucht es neben der Ortsentwicklung auch Orte und Gelegenheiten, wo diese Menschen Christus entdecken können. «Die Gesellschaft braucht Gelegenheiten, bei denen Christen und Noch-nicht-Christen, die mehr über das Evangelium erfahren wollen, sich in einer nicht-bedrohlichen Umgebung treffen können, in der sie respektiert werden» (S. 48).

Dafür eignen sich neben dem Gottesdienst auch evangelistische Gesprächskreise oder zielgruppenspezifische Angebote für Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen und -situationen. Dabei sollte aber nicht jeder Anlass zu einem evangelistischen Feldzug werden. Es geht einfach mal darum, den «gemeinsamen Lebensraum» im Dorf zu geniessen (S. 158). Denn: «Gespräche über den Glauben gestalten sich in einer echten Freundschaft aus dem Alltag heraus und nicht aus einem Zwang, andere bekehren zu wollen» (S. 166).

Alles beginnt in der Familie

Das entscheidende strategische Werkzeug ist in den Augen von Reimer die Familie. Das beginnt bereits in der einzelnen Familie, frei nach dem Motto: «Was im Dorf leuchten soll, muss in der Familie angezündet werden.» Die Familie ist für ihn «die alles entscheidende Grundeinheit in der Heilsökonomie Gottes» (S. 112). Er erinnert in diesem Zusammenhang an die ersten Christen und ihre Gastfreundschaft. «Es war diese Gastfreundschaft, die wesentlich zum Siegeszug des Evangeliums in den ersten Jahrhunderten der christlichen Geschichte beitrug» (S. 115).

Drei bis vier Familien, die in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander leben, sollen sich, wo möglich zusammen mit Alleinstehenden und älteren Menschen, zu Familien-Clustern zusammenschliessen. Hier sei es am einfachsten möglich, die Berufung, Begabung und Platzanweisung aller – auch der Kinder – zu erkennen. In dieser kleinen Gemeindezelle könne Transparenz in den Beziehungen eingeübt werden, aber auch die gegenseitige Unterstützung nach dem Leib-Prinzip. Hier sei es auf kleinem Raum möglich, «echte Spiritualität» einzuüben: «Leben im Alltag mit Gott und aus der Kraft Gottes» (S. 151). Und schliesslich gehe es dann im Familien-Cluster auch «um die gemeinsame Mission in Wort und Tat», im Blick seien dabei vor allem die Nachbarn. Ein solche Familiengruppe könne dann einmal im Monat gemeinsam Gottesdienst feiern. Wichtig sei es aber, dass die verschiedenen Familien-Cluster in die lokale Gemeinde eingebunden blieben, allenfalls auch in ein grösseres Gemeindenetz. Ebenso sollten unbedingt auch öffentlich zugängliche Gottesdienste vor Ort angeboten werden.

 

Wie anfangen?

Wer aufs Land in ein Dorf zieht, sollte meiner Meinung nach zuerst abklären, was es an christlichen Gemeinden vor Ort schon gibt. Und dabei am besten zuerst in der örtlichen Landeskirche vorbeischauen, die ja bereits parochial2 und damit für die Ortsentwicklung ideal aufgestellt ist. Die meisten Kirchgemeinden wären wohl froh um solche Familiengruppen, die mithelfen, die Kirche weiterzubringen, auch im evangelistischen und diakonischen Auftrag für das Dorf. Machmal braucht es für die Neuausrichtung einer alten Kirche auch etwas Geduld. Und im Notfall ist halt auch mal ein ganz neuer Anfang nötig, vorerst neben der Kirche.

Wenn es gelingt, die Freikirche vor Ort für ihre unmittelbare Umgebung zu sensibilisieren, ist auch sie eine ideale Basis für örtliche Transformationsprozesse. Unter Umständen wird es nötig sein, bestehende Strukturen aufzubrechen und die Menschen zu ermutigen, ganz bewusst nicht mehr oder nicht nur in die Ferne zum Gottesdienst zu fahren, sondern vor Ort Familien-Cluster zu gründen. Diese sollten aber in der Regel zumindest zu Beginn im Kontakt mit der Muttergemeinde bleiben. Netzwerke wie die Evangelische Allianz, die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen, regelmässige Quartiergebete und interkonfessionelle Christentreffen für das Dorf können helfen, die heilsamen Prozesse für die Ortsentwicklung zu koordinieren und zu ermutigen. 

Kurz und gut: Der Missiologe Johannes Reimer schildert in seinem Buch theologisch präzise begründet und praktisch illustriert die zwei Grundaufträge einer christlichen Gemeinde: Das Fördern von Christinnen und Christen innerhalb der christlichen Gemeinschaft – und das kreative Wahrnehmen der evangelistisch-diakonischen Aufgaben im Dorf. Für alle, die in Städten leben, gibt es übrigens eine gute Nachricht: auch für sie hat derselbe Autor ein Buch geschrieben!3

Und die zweite gute Nachricht: Im Schweizer Netzwerk für «Werteorientierte Dorf-, Regional- und Stadtentwicklung» (WDRS) ist rund um die Ortsentwicklung im christlichen Geist (auch in der Stadt) viel Wissen und Erfahrung zusammengefasst. Im entsprechenden Newsletter4 werden ca. zwei Mal im Jahr gute Beispiele und Prinzipien aufgegriffen. Manchmal gibt es auch Seminare und Tagungen, die das Anliegen aufgreifen, in der Regel gleich zusammen mit einer christlichen oder politischen Gemeinde, die in diesem Sinne unterwegs ist.

Wichtig bleibt so oder so unsere innere Ausrichtung. Der Gemeindeaufbau-Spezialist Christian Möller schreibt gleich zu Beginn des Buches: «Die Fixierung auf den Mangel beschreibt nicht nur Fakten, sie schafft auch Fakten. Gemeinde muss auch erglaubt werden» (S. 17). Wir brauchen also «Glaubensmut», wenn wir uns neu oder immer wieder der christlichen Gemeinde und der Bevölkerung im Dorf zuwenden wollen.

 

1 Reimer, Johannes. «Gottes Herz für dein Dorf. Ideen und Strategien für Gemeinde auf dem Land.» Moers, 2020, Brendow-Verlag. Paperback, 213 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-96140-144-4

2 Das Einzugsgebiet einer Landeskirche ist in der Regel deckungsgleich mit einer politischen Gemeinde.

3 Gottes Herz für deine Stadt, ISBN 978-3-96140-035-5

4 Sie können diesen Newsletter ganz am Schluss dieses Beitrages mit der Taste «Dorfentwicklung» bestellen; siehe auch: www.dorfentwicklung.ch

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