Ungewohnte Herausforderungen

Die ungewohnte Situation rund um Corona, welche nun bereits ein gutes Jahr andauert, fordert uns auf ganz unterschiedliche Art heraus. Auch wenn nach dem Start der Impfkampagne in den einzelnen Kantonen berechtigterweise Hoffnung aufkeimt, dass – zumindest hierzulande – die einschneidendsten Probleme, welche die Pandemie mit sich bringt, mittelfristig wirkungsvoll eingedämmt werden können, ist die Corona-Krise noch lange nicht ausgestanden. Lassen wir es nicht zu, dass ihre Spuren die Krise überdauern.

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Meinungsverschiedenheiten aushalten 

Als eine der grössten Herausforderungen dieser Zeit erachte ich die zwischenmenschlichen Unstimmigkeiten, die auf die Pandemie zurückzuführen sind. Es ist nicht nur so, dass derzeit pausenlos in unterschiedlichen Zusammenhängen über Corona ganz allgemein und über die staatlich verordneten Massnahmen im Konkreteren diskutiert wird, diese Diskussionen bringen oftmals Meinungsverschiedenheiten zu Tage, die in vielen Fällen über ein gesundes Mass der kritischen Auseinandersetzung hinausgehen. Auch wenn viele unterdessen coronamüde und bezüglich der Pandemie wortkarg sein mögen, niederschwellig schwingt das derzeit alles dominierende Thema dennoch immer wieder mit und geht leider auch an den zwischenmenschlichen Beziehungen nicht spurlos vorbei. Heftige Dispute, ja richtiggehende Streitereien prägen die Kontakte in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen. Und diese Meinungsverschiedenheiten gehen quer durch alle Beziehungen: sei es in Freundschaften, Familien, Vereinen, Teams, Organisationen oder sogar in christlichen Gemeinden.

Plötzlich maskiert und auf Abstand: «Wanderwoche plus» im Sommer 2020 in Rasa TI (Bild: Hanspeter Schmutz).

Vor wenigen Wochen ergab sich ein spontanes Gespräch mit einer Frau aus der Nachbarschaft. Wie so oft wurde – für einmal bis zum Schluss auf gute und konstruktive Weise – die derzeitige Situation thematisiert. Beim Austausch machte die Frau eine treffende Aussage, die mich seither immer wieder begleitet und inspiriert hat. Das Wichtigste sei doch, dass man einander und die unterschiedlichen Meinungen einfach respektieren und stehen lassen könne – selbstverständlich nur solange dadurch niemand einem Gesundheitsrisiko ausgesetzt wird. Wie wahr. Das ist ja eigentlich nichts anderes als eine Grundvoraussetzung für gute zwischenmenschliche Beziehungen. Mir scheint jedoch, dass der gegenseitige Respekt derzeit ein noch viel höheres Gut ist als in pandemielosen Zeiten – oder zumindest sein sollte.

 

Mit der Krise weise umgehen

Bei uns als einer fünfköpfigen Pfarrfamilie sind in diesen Zeiten Diskussionen zum Umgang mit den verschiedenen Personengruppen aus unserem Umfeld – Familie, Freunde, Gemeinde, Schule, Vereine, Politik – allgegenwärtig. Im kirchlichen Kontext ergeben sich beispielsweise Fragen wie: Finden die Gottesdienste weiterhin statt? Müssen die Angebote der Kinder- und Jugendarbeit in den digitalen Raum verlegt werden? Wie können die vorgesehenen Schutzmassnahmen in der Seelsorge in einem passenden Rahmen umgesetzt werden?

Im familiären Bereich sehen wir uns nicht weniger ständig mit Fragen und Herausforderungen konfrontiert. Wie sieht derzeit der Kontakt mit den Grosseltern aus? Und wie mit den Patenkindern – umso mehr, wenn man bedenkt, dass eines dieser Kinder erst vor kurzer Zeit das Licht der Welt erblickt hat? Auch bei unseren diversen Kontakten mit Leuten aus den Risikogruppen stellen sich Fragen: Wie gehen wir damit um, wenn wir feststellen, dass in einer Begegnung gewisse Leute wesentlich legerer – je nach Situation alles andere als coronakonform – mit den Massnahmen umgehen?  Ein besonders einschneidendes Beispiel eines Zielkonfliktes im familiären Bereich erlebten wir nach den Weihnachtsferien. Angesichts der prekären Situation in den Intensivstationen der Spitäler beschlossen wir als ganze Familie, aus Solidarität bis auf Weiteres aufs Skifahren zu verzichten. Nach dem ersten Schultag, auf den sich alle sehr gefreut hatten, kamen unsere Kinder traurig nach Hause. Sie hatten erfahren, dass trotz der angespannten Situation über die Weihnachtstage kaum jemand nicht auf den Skiern unterwegs gewesen war. Auch wenn sie unseren gemeinsamen Entscheid klar befürwortet hatten – fast noch stärker, als ich dies selber getan hatte: Die Tatsache, dass sie sich gegenüber ihren Freunden sogar noch erklären mussten, war für sie eine überraschende und grosse Herausforderung.  

 

Sich dem Fremdartigen stellen

Ich halte nicht viel von Anglizismen. Aber es gibt ein englisches Wort, das die vergangene Zeit im Kleinen wie im Grossen sehr treffend beschreibt. Die Situation, in der wir uns als ganze Gesellschaft befinden, ist meines Erachtens schlicht und einfach «strange» (fremd). Und zwar in jeglicher Hinsicht. Und dabei trägt der äusserst unterschiedliche Umgang mit der Pandemie nicht unbedingt zur Beruhigung der Situation und der zwischenmenschlichen Kontakte bei.


In den letzten Tagen ist mir ein Bibelwort durch den Kopf gegangen, das helfen könnte, mit dieser fremdartigen Situation umzugehen. Davon ausgehend möchte ich sagen: «Seien wir den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche. Gehen wir auf unsere Mitmenschen zu und versuchen wir, sie in ihrer individuellen Situation zu verstehen. Und zollen wir ihnen Respekt, unabhängig davon, wie sie mit der Pandemie und den entsprechenden Auswirkungen umgehen.»


Indem wir uns unseren Mitmenschen zuwenden und uns in ihre Lebenswirklichkeit hineinbegeben, können wir einen kleinen, aber nicht unwesentlichen Beitrag zur Befriedung und zur Versachlichung der zwischenmenschlichen Herausforderungen leisten. Und aus der Krise für die Zeit danach etwas dazulernen.

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