Recht: Obrigkeit und Glaube – ein Beispiel aus der Reformationszeit

Auf welcher Grundlage sollen sich Christen im Staat engagieren? Jesus hat seine Herrschaft erklärtermassen nicht politisch verstanden. Trotzdem war und ist sein Evangelium bis heute ein entscheidendes Ferment für die Entwicklung des Staatsrechts. Eine Dissertation über die elf Mühlhäuser Artikel von Thomas Müntzer zeigt Chancen und Risiken auf.

(Lesezeit: 11 Minuten)

Kann staatliches Recht mit dem Evangelium legitimiert werden? Jesus hat seine Herrschaft erklärtermassen nicht politisch verstanden. Trotzdem war und ist das, was er gesagt und gelebt hat, von grosser Bedeutung für die Gestaltung der Rechtsordnung. Welche Fragen sich dabei stellen, zeigt exemplarisch eine neue Dissertation über die von Thomas Müntzer geprägten Mühlhäuser Artikel aus dem Jahr 1524.

Thomas Müntzer-Denkmal in Zwickau (Bild: Wikipedia)

«Erfüllt ist die Zeit, und nahe gekommen ist das Reich Gottes. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!»1 Diese Botschaft verkündete Jesus am Anfang seines öffentlichen Wirkens. Es gab etliche Zuhörer, die sie als politischen Aufruf zur Beseitigung der heidnischen Fremdherrschaft der Römer und der von ihnen eingesetzten Vasallen und zur Wiederherstellung des alten Israel verstanden. Ihnen gab Jesus sogleich zu verstehen, dass seine Herrschaft von ganz anderer Natur und Dimension ist. Es ist denn auch kein Zufall, dass das Neue Testament keine «christliche Staatslehre» enthält.

 

Jesus ist nicht Mohammed

Jesus verkündete das Reich Gottes, nicht weltliche Herrschaft. Seine Lehre für all jene, die herrschen wollen, beschränkte sich auf eine etwas beschämende Aussage gegenüber seinen Jüngern, die um ihren Rang stritten: «Wer unter euch gross sein will, sei euer Diener, und wer unter euch der Erste sein will, sei der Knecht aller2.» 

Jesus gab nur damit und in seiner Selbstaufopferung als «Knecht aller» ein Vorbild für Obrigkeiten. Darin unterscheidet er sich fundamental von Mohammed, der nach sanftmütigen Anfängen den Weg der Gewalt wählte, Karawanen überfiel, seine Heimatstadt Mekka eroberte, Krieg führte – mit all seinen Gräueln – und sich und seine Nachfolger als politische Herrscher etablierte. Politische Herrschaft und religiöse Autorität sind noch heute im Islam eng miteinander verbunden. Es geht im Islam um eine religiös-politische Gemeinschaft mit der Scharia als Rechtsordnung und entsprechender Legitimation der Ausübung staatlicher bzw. überstaatlicher Gewalt.

 

Spannungen zwischen Bergpredigt und Gottesstaat

Auch im Christentum hatte sich nach der konstantinischen Wende und dem Aufstieg des Christentums zur Staatsreligion unter Theodosius I im Jahr 380 ein gottesstaatliches Herrschaftsverständnis herausgebildet. Die christlichen Herrscher suchten Legitimation ihrer Herrschaft und ihrer Gesetze in der christlichen Lehre.

Allerdings blieb das Spannungsfeld zwischen der Lehre des Evangeliums von Jesus Christus und der weltlichen Herrschaft unauflösbar bestehen, und es gelang weder mit der mittelalterlichen Lehre von den zwei Schwertern noch mit Luthers Überlegungen zu den zwei Regimentern und zwei Reichen, dieses Spannungsfeld aufzulösen.

Auch wenn die Notwendigkeit einer Obrigkeit im Neuen Testament unbestritten ist: Die radikale Botschaft Jesu insbesondere in der Bergpredigt bildet bis heute einen Gegenpol zu jeder Ausübung von obrigkeitlicher Macht und Gewalt. Es hat sich meines Erachtens als segensreich erwiesen, dass dem neuen Testament kein staatsrechtliches Konzept entnommen werden kann, sondern dass es nur Anleitungen für ein dem Reich Gottes entsprechendes Leben enthält. Auf dieser Grundlage muss die Frage nach der richtigen staatlichen Ordnung und dem richtigen Recht von der Christenheit immer wieder neu geprüft und definiert werden.

 

Versuch einer biblisch inspirierten Staatsordnung

Einen interessanten Versuch einer solchen Neuausrichtung unternahm in der Reformationszeit der deutsche Reformator und Anführer in den Bauernkriegen Thomas Müntzer in der Freien Reichsstadt Mühlhausen in Thüringen. Er war massgebend an der Formulierung der «Elf Mühlhäuser Artikel» beteiligt, die eine Neuordnung der politischen Verhältnisse verlangten. Der Jurist Benjamin Hoffmann hat darüber kürzlich eine anregende Dissertation verfasst, mit dem Titel «Recht und Religion im Verfassungsrecht der Frühen Neuzeit».

Angeführt von Müntzer formulierte die Bevölkerung von Mühlhausen 1524 in einem revolutionären Akt eine neue Stadtverfassung mit elf Artikeln, wobei gleich der erste dieser Artikel den Sturz der bisherigen Stadtregierung verlangte. Jeder der elf Artikel enthält eine Begründung mit zahlreichen Verweisen auf Bibelstellen. Nach heutigem Verständnis wirkt der Text sehr situativ und mehr exekutiv als gesetzgebend. Die Verfasser sind in ihrer Suche nach einem biblisch begründeten Recht noch umfassend dem gottesstaatlichen Denken des Mittelalters verpflichtet und weit vom heutigen Konzept des Rechtsstaats entfernt. Zusammen mit den Erläuterungen und den Bibelversen, auf die verwiesen wird, lassen die Mühlhäuser Artikel aber Regelungen von allgemeinem und bleibendem Charakter und teilweise von überraschend «evangelischem» Gehalt erkennen.

Bezeichnend für das Rechtsverständnis der Artikel ist eine Formulierung in der Einleitung: «Wo disser beschloss aber Gottes worthen entkegenstunde, solt her gebessert und vorandert wird.» Also: Wo dieser Beschluss Gottes Wort entgegensteht, soll er verbessert und geändert werden. Das «Wort Gottes» wird als verbindlicher Massstab, als verbindliche Vorgabe für die politische Herrschaft und das Recht festgelegt. Was dem göttlichen Wort entgegensteht, muss «gebessert und verändert» werden. Das führt zu einer doppelten Dynamik: Der Artikel verpflichtet zur Kritik an einer bestehenden Herrschaft, wenn sie nicht dem «Wort Gottes» entspricht. Eher «unevangelisch» befürwortete Thomas Müntzer durchaus die Anwendung von Gewalt zur Beseitigung «gotteswidriger» Herrschaften, und eine totalitäre Auslegung des strikten Verweises auf das göttliche Wort liegt im Bereich realer Möglichkeiten. Zugleich zeigt die Formulierung aber auch eine selbstkritische Haltung: Es wird gleich von Anfang an die Möglichkeit des Irrtums und Offenheit für die Weiterentwicklung des Rechts signalisiert.

Revolutionäre Haltungen

Die ganz unideologische revolutionäre Wirkung dieser Haltung zeigt sich im ersten Artikel, der lautet: «Das man gancz einen newen rath secze». Die bestehende Obrigkeit wird nicht unbesehen als von Gott eingesetzt verstanden. Sie darf und soll abgesetzt werden, wenn sie nicht nach dem Willen Gottes handelt. Eine solche revolutionäre Sprengkraft des reformatorischen Denkens war Martin Luther fremd. Luther stellte sich auf die Seite der Herrschenden und unterstützte die Bekämpfung der Aufständischen um Thomas Müntzer in den Bauernkriegen.

Artikel 2 lautet: «Das man yn dy bibell adder das heylige worth Gottes bevele, darnach gerechtigkeyt und orteyle fellen.» Hoffmann erläutert hierzu: «In der anschliessenden Ausführung äussern sich die Verfasser über die gerechte Urteilsfällung. Dabei konkretisieren sie ihr Postulat mit folgendem Satz: ‘Auff das dem armen gesche wy dem reychen […].’ Ratsherren sollen keine Entscheidungen fällen, die zur Bevorzugung von armen oder reichen Personen führen.» Es geht in diesem Artikel somit um den Grundsatz der Rechtsgleichheit und des Willkürverbots. Die Bibelstellen, auf die verwiesen wird, lauten etwa: «Richtet recht, [...], und bedrückt nicht die Witwen, Waisen, Fremdlinge und Armen»3. «Richtet nicht nach dem, was vor Augen ist, sondern richtet gerecht. [...]. Richtet denn unser Gesetz einen Menschen, ehe man ihn angehört und erkannt hat, was er tut?»4 Diese Verweise wirken auch heute erstaunlich modern, sie lassen wesentliche Rechtsprinzipien erkennen, die von fundamentaler Bedeutung für das moderne Konzept des grundrechtskonformen Rechtsstaats sind.

Artikel 7 verlangt, dass ein neues Stadtsiegel eingeführt und «zu Gottes eren und der stat nucz» gebraucht werden solle. Hoffmann zeigt anhand der Erläuterungen zu diesem Artikel und des historischen Hintergrunds auf, dass mit der Einführung eines neuen Siegels das Anliegen der Rechtssicherheit für die Bürger der Stadt durchgesetzt werden sollte, ein Schutz vor Falschbeurkundungen und von gegen göttliches Recht verstossenden Urkunden.

Es sollen hier nicht alle Artikel zitiert werden, die genannten Beispiele zeigen das Wesen der Mühlhäuser Artikel. Sie sind Ausdruck des Versuchs, gegen die herrschende, als korrupt erkannte Obrigkeit eine in der biblischen Botschaft begründete öffentliche Ordnung aufzurichten, die dem Willen Gottes entspricht.

Es geht dabei wie im Mittelalter um ein gottesstaatliches Ordnungskonzept, das aber nicht statisch ist, sondern auf der Grundlage der biblischen Texte dynamisch entwickelt und hinterfragt wird. Wie erwähnt sind die Mühlhäuser Artikel von modernen Konzepten des Staatsrechts noch weit entfernt, und dass Thomas Müntzers Konzept bei Erfolg eine totalitäre Dynamik entwickelt hätte, kann nicht ausgeschlossen werden. Vom Toleranzgedanken, wie er bereits damals von verschiedenen Exponenten der Täuferbewegung vertreten wurde, ist in den Mühlhäuser Artikeln noch keine Spur zu finden.

 

Ein Vorbild für Menschen- und Sozialrechte

Gleichwohl sind die Mühlhäuser-Artikel auch heute noch bemerkenswert. Sie postulieren wie erwähnt nicht nur eine revolutionäre Haltung gegenüber einer als korrupt empfundenen Obrigkeit, sondern sind zugleich durch eine selbstkritische Haltung geprägt, der die eigene Fehlerhaftigkeit bewusst ist. Darin liegt ein dynamisches Rechtsverständnis, das laufende Korrekturen der menschlichen Ordnungen anhand biblischer Erkenntnisse ermöglicht. Thomas Müntzer stand in den Bauernkriegen auf der Verliererseite und die weitere Geschichte verlief ohne ihn. Vielleicht hätte seine im Vergleich zu Luther sehr viel obrigkeitskritischere Haltung mit ihrer laufenden Kritik der Herrschaft anhand der biblischen Botschaft zu einem andern Geschichtsverlauf in Deutschland geführt.

Es ist verdienstvoll, dass die Dissertation von Benjamin Hoffmann die Mühlhäuser Artikel in Erinnerung ruft und an ihrem Beispiel die korrektive Kraft des Evangeliums gegenüber menschlichen Ordnungen sichtbar macht. Jesus selbst hat nach meinem Verständnis den Grundstein zu einer solchen Haltung gelegt, indem er das Gesetz auf seinen Sinn zurückführte («Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat»5) und von diesem Sinn ausgehend die Auslegung des Gesetzes definierte (Ährenessen am Sabbat ist erlaubt). Oder wie es Paulus formulierte: «Bleibt niemandem etwas schuldig, ausser dass ihr einander liebt. Denn wer den andern liebt, hat das Gesetz erfüllt. Das Gebot nämlich: Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren, und was es sonst noch an Geboten gibt, wird in dem einen Wort zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst»6.

Es ist nicht zuletzt dieses dynamische Gesetzesverständnis des Neuen Testaments, das zu den modernen westlichen Rechtsordnungen mit ihrer Anerkennung von fundamentalen Menschen- und Sozialrechten geführt hat.

 

Quelle der Dissertations-Zitate: Hoffmann, Benjamin. «Recht und Religion im Verfassungsrecht der Frühen Neuzeit.» 2021, Nomos

1 Markus 1,15

2 Markus 10,43

3 Sacharia 7, 8f.

4 Johannes 7,24.51

5 Markus 2,27

6 Römer 13,8f.

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Kommentare

René Müller, EVP Bez.Affoltern schreibt
am 11. Januar 2022
Lieber Ernst,
Deine Feststellung, Jesus habe seine Herrschaft erklärtermassen nicht politisch verstanden, kann ich jetzt auch nach den Weihnachtstagen noch immer nicht verstehen. ==> da brauche ich Deine Unterstützung.
Denn sein Wirken könnte politischer nicht sein, siehe seinen Streit mit der Obrigkeit und den Kampf gegen gewisse Gesellschaftsregeln.
Selbst wenn Du 'seine Herrschaft' im engeren Sinn ansprichst und damit nur diese im Jenseits meinst und so (weltliche) Politik ausschliessest, kann ich Dir nicht folgen. Aus meiner Sicht ist Jesus in die Welt gekommen um zu zeigen, wie Wohlergehen für ALLE Menschen erwirkt werden kann. In seiner Nachfolge stehen wir mitten in der Ausmarchung um eine Gesellschaftsordnung, die ALLEN gerecht wird.
Mit herzlichem Gruss, René Müller