Mann/Frau/Familie: Alles ausser Lebensschutz?

Diakonische Projekte gehören in vielen Kirchen zum Standard, Kirchgemeinden engagieren sich für die Integration von Flüchtlingen, für hungernde Menschen in Afrika und für die medizinische Versorgung der Ärmsten rund um den Globus. Demonstrationen gegen Armut oder Ausbeutung werden begrüsst. Das Auf- und Einstehen für den Schutz ungeborener Kinder scheint aber teilweise schon fast mit einer Art «Makel» behaftet zu sein.

(Lesezeit: 7 Minuten)

Christen sind sozial. Was sie an Freiwilligenarbeit leisten, würde locker mehrere Ausgaben des Tagesanzeigers füllen. Das alles ist unbedingt Teil eines ganzheitlichen und authentischen Christseins. Ziemlich still ist es dagegen in vielen Kirchen und Freikirchen rund um das Thema Lebensschutz. 

Christlich-menschlicher Grundauftrag: Lebensschutz (Bild: Pixabay)

Einsatz für die Opfer

Eine erstaunliche Feststellung, wenn man bedenkt, dass die Ablehnung der Kindstötung von Anfang an zur DNA der Nachfolger Jesu gehörte. In seinem Artikel «Leidenschaftlich für den Schutz des Lebens»1 schreibt Josua Hunziker: «Die hohe Wertschätzung des ungeborenen Lebens war für die ersten Christen ein integraler Bestandteil der Ehre und Anbetung Gottes, des Ursprungs allen Lebens. Dies äusserte sich aber keinesfalls nur passiv in der Verurteilung der kulturellen Praktiken – vielmehr setzten sie sich aktiv und unter grossen Opfern für die Armen und Ausgestossenen ein.» Hingebungsvoll kümmerten sich die Nachfolger des Jesus von Nazareth um ausgesetzte Säuglinge und nahmen verstossene Kinder in ihre Häuser auf. Die Botschaft, dass jeder Mensch als «Abbild Gottes» eine unverlierbare Würde besitzt, wurde durch die ersten Gläubigen so umfassend verstanden und gelebt, dass insbesondere die Opfer der römischen Sexualmoral – Frauen, Kinder und Sklaven – sich vom Evangelium angezogen fühlten und sich der Gemeinde anschlossen.  

 

Einsatz für den eigenen Bauch

Wo liegen die Gründe dafür, dass zahlreiche Christen sich gegenwärtig eher mit den Feministinnen und ihren «Mein Bauch gehört mir»-Parolen solidarisieren als mit denen, die sich dafür einsetzen, dass jeder Mensch von der Empfängnis an ein unbedingtes Recht auf Leben und Schutz hat? Viele meiner Bekannten erklären, dass sie Abtreibung zwar nicht gut finden, ihnen aber der Stil, wie die Lebensschutzbewegungen auftreten, nicht gefällt. Wichtig genug, um eigene Projekte zu entwickeln, scheint ihnen die Thematik dann aber häufig doch nicht zu sein.

Offensichtlich ist, dass sich die von «Pro-Choice-Aktivisten» seit den Siebzigerjahren gezielt verbreiteten Statements «Jede Frau muss das selbst entscheiden», «Keine Frau treibt leichtfertig ab» oder «Abtreibung ist ein Frauenrecht» unterdessen breit etabliert haben. Viele Christen scheinen stark von der Überzeugung auszugehen, dass der Mensch von Grund auf gut ist und deshalb auch (meist) gute, verantwortungsvolle Entscheidungen trifft. Dass die Rechte und Interessen der betroffenen Kinder dabei übergangen werden, wird als Preis der Selbstbestimmung ebenso in Kauf genommen wie die Tatsache, dass hinter der weltweiten Förderung von Abtreibung unter anderem profitorientierte Firmen stehen.

 

 

Wer ist eine Person?

Im 2021 auf Deutsch erschienenen Film «Ihr Wille geschehe!»2 schildert der ehemalige Abtreibungsarzt Dr. Bernhard Nathanson, mit welchen Strategien und politischen Schachzügen er und seine Mitstreiter 1973 das Urteil im Fall «Roe versus Wade» beeinflusst hatten, das eine Art Startschuss zur Liberalisierung der Abtreibung in den USA war. Um die Änderung des Abtreibungsgesetzes zu rechtfertigen, vertraten die Richter den Standpunkt, dass ein Baby in der Gebärmutter zwar menschlich, aber nicht per se eine Person sei. Die sogenannte «Personhood-Theorie», die als Argument verwendet wurde, anerkennt das biologische Menschsein zwar als wissenschaftliche Tatsache, sieht das Person-Sein jedoch als ethisches Konzept, das durch das individuelle Wertesystem definiert wird. Eine Theorie, die perfekt zum höchsten Wert der postmodernen Gesellschaft passt.

 

Selbstbestimmung und Selbstoptimierung

«Heilig ist dem heutigen Menschen nur noch die Selbstbestimmung», schreibt die Sexualwissenschaftlerin Thérèse Hargot in ihrem Buch «Sexuelle Freiheit aufgedeckt». Mehrere tausend Kinder werden in der Schweiz jährlich dieser heiligen Selbstbestimmung geopfert. Aktuelle Statistiken weisen darauf hin, dass ein hoher Anteil der offiziell rund 10 000 Abtreibungen nicht auf junge Frauen ohne Einkommen, sondern auf häufig gut situierte Frauen zwischen 25 und 35 Jahren zurückgeht. Viele von ihnen möchten zwar durchaus mal Kinder haben, aber eben nicht gerade jetzt oder nicht mit diesem Mann. Mütter behinderter Kinder erzählen mir, dass sie von ihren Ärzten unter Druck gesetzt worden waren, ihr Ungeborenes abzutreiben und sich Aussenstehenden gegenüber zunehmend dafür rechtfertigen müssen, die Schwangerschaft nicht beendet zu haben. Vorgeburtliche Selektion findet in einer auf Gesundheit, Optimierung und Nutzen fixierten Gesellschaft einen vorbereiteten Boden.

 

Jeder Mensch hat dieselbe Würde

Dies alles zu wissen, fordert mich heraus, Stellung zu beziehen. Nicht zuletzt, weil es beim Lebensschutz um die Frage der gottgegebenen Würde aller Menschen geht. Wenn ich glaube, dass mein eigenes Leben vor Gott einen unbedingten Wert hat, muss ich diesen Wert konsequenterweise auch jedem anderen Menschen zugestehen. Wenn die Bibel davon spricht, dass Gott das Ungeborene formt und bereits im Mutterleib eine spezifische Berufung über Menschen ausspricht, legt er damit das Fundament, auf dem wir alle stehen.

Wo die Menschenwürde und das Person-Sein der Ungeborenen in Frage gestellt wird, wird letztlich das Lebensrecht aller zur Definitionsfrage erklärt. Wenn ich für 2022 drei Wünsche frei hätte, wäre einer davon, dass wir zurückfinden zum selbstverständlichen Lebensschutz-Engagement der ersten Christen. Die Botschaft, dass jeder Mensch von allem Anfang an von Gott geliebt und willkommen geheissen ist, hat gesellschaftsveränderndes Potenzial. Christinnen und Christen sind Lebensschützer. Wenn nicht sie, wer dann?

 

1 https://danieloption.ch/ethik/dna-3-10-leidenschaftlich-fuer-den-schutz-des-lebens/

2 https://www.fontis-shop.ch/products/ihr-wille-geschehe-dvd

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