Das Verhältnis zwischen Gottesdienst und Theater sei schon immer ein ambivalentes gewesen, schreibt der Berner Professor für Praktische Theologie David Plüss in seiner Rezension1 zu Ursula Roths Monographie «Die Theatralität des Gottesdienstes»2.
Spuren in der Geschichte
Auf der einen Seite träten sie in der Christentumsgeschichte als einander entgegengesetzte Kulturformen in Erscheinung, andererseits sei aber auch die Nähe und historische Verflechtung zwischen beiden notorisch. So hat das europäische Theater auf zweifache Weise religiöse Wurzeln: über das antike griechische Theater, das aus dem heidnischen Kult entstanden ist sowie über die mittelalterlichen Passionsspiele, die aus dem gottesdienstlichen Kontext hervorgingen und über das Jesuitentheater, das zum Programm der Gegenreformation gehörte.
Dass sich aus dem Gottesdienst die Passionsspiele entwickeln konnten, hat wiederum seinen Grund darin, dass für die christliche Liturgie schon seit dem 4. Jahrhundert theatrale Elemente konstitutiv waren: Roth spricht von einer «Tradition der liturgischen Dramatisierung», die in gottesdienstlichen Gesten und Handlungen das Heilsgeschehen in Christus nachzeichnet. Während sich dann die orthodoxe Liturgie zu einem komplexen, den ganzen Kirchenraum gleichsam szenografisch einbeziehenden Geschehen entwickelte, das versucht, die himmlische Welt und ihr Rettungsversprechen abzubilden, traten im katholischen, v.a. aber im protestantischen Bereich die dramatisierenden Elemente im Zuge der Reformation in den Hintergrund. Doch auch im reformatorischen Gottesdienst blieb ein Element zentral, das man als theatral bezeichnen könnte: das mimetische Handeln während des Abendmahls als zeichenhaftes Nachahmen der letzten Zusammenkunft Jesu mit seinen Jüngern3.
Gottesdienst als Inszenierung
Dass sich aber nicht nur in den Restbeständen des darstellenden Handelns während des Abendmahls eine Verwandtschaft des heutigen westeuropäischen Gottesdienstes zum Theater zeigt, wurde von der Praktischen Theologie seit den 1990er Jahren immer stärker thematisiert. Der so genannte «theatrical turn», der die Kulturwissenschaften erfasste – der Vergleich von kulturellen Phänomenen mit theatralen Aufführungen – erreichte auch die Gottesdiensttheorie. Man erkannte wieder neu den Aufführungscharakter des liturgischen Geschehens und verwies auf Analogien zwischen theatralen und liturgischen Rollenbeschreibungen, Kostümen und Gewändern, Requisiten und Gottesdienstgeräten.
Die Metaphorik und Begrifflichkeit der Theaterwelt hielt Einzug in den gottesdienstlichen Diskurs. Der Gottesdienst wurde als performatives Kunstwerk beschrieben, Theatertheorien dienten nun explizit als Impuls für Theorie und Praxis der Liturgie. Wichtig wurde der Begriff der «Inszenierung». So schrieb Ralph Kunz, seit 2004 Ordinarius für Praktische Theologie in Zürich, noch in seiner Zeit als Assistenzprofessor den programmatischen Aufsatz «Der christliche Gottesdienst als religiöse Inszenierung»4, David Plüss wurde 2005 habilitiert mit seiner Arbeit «Gottesdienst als Textinszenierung»5. Und unter dem Motto, dass Kirche ein Ort der rituellen Inszenierung sei6, orientierte sich auch die kirchliche Ausbildungspraxis zunehmend am Vorbild des Theaters.
Der Schauspieler und Regisseur Thomas Kabel bestimmte mit seinen Kursen zur «Liturgischen Präsenz» in den letzten beiden Jahrzehnten massgeblich die praktisch-liturgische Ausbildung der angehenden Pfarrerinnen und Pfarrer der reformierten Landeskirchen in der Deutschschweiz. Er orientierte sich dabei mit seinem dramaturgischen Strukturmodell für den Gottesdienst an den Schriften des wichtigen Theatertheoretikers und «Erfinders» des psychologischen Theaters Konstantin Stanislawski, wie auch am so genannten method acting des Stanislawskiadepten Lee Strasberg, das die Spielweise der grossen Hollywoodstars seit den 1950er Jahren entscheidend geprägt hat.
Bei Kabel wird der Liturg unbestritten zum Hauptdarsteller bzw. die Liturgin zur Hauptdarstellerin des Gottesdienstes. An deren Fertigkeiten und an den Momenten der Wahrhaftigkeit durch deren Identifikation mit der Rolle entscheidet sich, ob der Gottesdienst gelingen und ob das Heilige sich entfalten kann. Kabel halte, so wird er von Roth rezipiert, wie Stanislawski am Inszenierungsprinzip der Illusion fest. Es gelte, alles, was diese Illusion stören könnte, zu vermeiden. Wie hinter der imaginierten vierten Wand, die den Schauspieler auf der Bühne vom Publikum trennt, muss es der Pfarrperson gelingen, einen eigenen Raum zu schaffen, der unbeeinträchtigt von den Gottesdienstbesuchern bleiben kann. Der liturgische Dienst erfordert also von den Ausführenden ein Höchstmass an Disziplin, er wird zur hohen Kunst und ermöglicht das Kunstwerk Gottesdienst.
Die eigene Erfahrung
Vor kurzem besuchte der Schreiber dieser Zeilen anlässlich der eigenen Pfarrerausbildung selber einen Kurs von Thomas Kabel. Mit gemischten Gefühlen reiste ich an. Mir war zwar sehr wohl bewusst, wie wichtig die Arbeit Kabels für ein Verständnis der liturgischen Herausforderungen ist. Jedes Heraustreten aus einer Gruppe ist ein Auftritt, jede Bewegung des Körpers im Raum ist ein Zeichen und trägt Bedeutung. Dafür im kirchlichen Umfeld ein fortgeschrittenes Bewusstsein geschaffen zu haben, ist das grosse Verdienst Kabels.
Gleichzeitig gehöre ich als Schauspieler zur Generation des postdramatischen Theaters, welche die Grundsätze des illusionären Theaters radikal in Frage gestellt und die erwähnte vierte Wand geöffnet hat. Ich gehöre zu den Darstellern, die auch während des Spiels die Kommunikation mit den Zuschauern suchen und für die Präsenz nicht bloss Präsenz im eigenen Kunstraum ist, sondern Gegenwart im realen Jetzt, zusammen mit allen Anwesenden. Und ich habe ein anderes Gottesdienstverständnis als das bei Kabel vorausgesetzte. Es soll nicht durch die disziplinierte Anstrengung eines Hauptdarstellers und durch dessen Inszenierung eine andere Gegenwart mitgeschaffen werden, sondern es sollen äussere und innere Räume bereitgestellt werden für die Gegenwart des Anderen, die sich verbindet mit der Gegenwart aller, die eine alltägliche Gegenwart ist und keine besondere. Gottesdienste sollen nicht Unterbrechungen des alltäglichen Lebens sein, sondern Orte und Zeiten, in denen das Alltägliche seinen Platz und seine Ruhe und seine Heiligung finden kann.
Mit gemischten Gefühlen reiste ich also an – und wurde schon in der ersten halben Stunde überrascht. Schon seit einiger Zeit, stellte Thomas Kabel sich vor, sei er in einer Umbruchphase. Ein Gottesdienst am Fernsehen habe ihm die Augen geöffnet, alles sei «richtig» gewesen, stimmig. Mit grosser Sorgfalt und einem guten Bewusstsein sei die Liturgie von statten gegangen – aber es habe ihn völlig kalt gelassen. Und er erzählt, wie er vor kurzem zufällig Zeuge eines freikirchlichen Gottesdienstes gewesen sei und wie er plötzlich aufgehorcht habe. Doch nicht wegen der Liturgie oder der Musik oder der Geste eines Körpers im Raum und auch nicht wegen der Predigt. Es war das Gespräch des Pastors mit einem Gast. Die Art des Miteinander-Redens, die gegenseitige Achtung und Aufmerksamkeit und das, was der Gast erzählt habe, die schwierige und schöne Geschichte seines Lebens. Das habe ihn berührt. Und darum gehe es doch im Gottesdienst, dass wir berührt werden, dass wir uns berühren lassen. Auf welche Weise das geschieht, das könne man nicht festlegen, dafür gebe es kein Rezept, jeder habe dafür vielleicht seinen eigenen Weg. Er müsse jetzt schauen, welche Auswirkung diese Erkenntnis für seine Arbeit habe, wie er weiter unterrichten wolle.
Ein Ausweg?
Ich war erstaunt – und erleichtert. Und ich überlegte, ob nicht doch auch wieder das Theater auf einen möglichen Weg hinweisen könnte. Ich denke an ein Theater, das man zur Zeit am Zürcher Schauspielhaus sehen kann (Bild): das Theater des Regisseurs Christopher Rüping, dessen letzte Inszenierung soeben mit dem renommierten Nestroy-Preis ausgezeichnet worden ist. Es ist ein Theater, das keine vierten Wände braucht und keine Kunstfertigkeit und Erhabenheit, die eine Differenz zwischen Bühne und Zuschauerraum schaffen und den Schauspieler vor den unbotmässigen Alltäglichkeiten des Publikums schützen müssen. Die Spielerinnen und Spieler suchen die Nähe zu den Zuschauenden und laden sie mit clownesker Gelassenheit auf eine gemeinsame Reise ein, lassen sie Teil ihrer Geschichte werden, eine Geschichte, die von Freude erzählen kann und Ausgelassenheit, ebenso wie von Leid und Verzweiflung, aber immer eine hoffnungsvolle Geschichte ist, weil man in ihr nicht alleine unterwegs ist.
Vielleicht kann diese Art von Theater zur Inspiration für den Gottesdienst werden, indem sie durch ihre Erzählweise zurück auf die Ursprünge des christlichen Gottesdienstes weist: auf das Zusammenkommen der Mahlgemeinschaft, auf das einfache Beisammensein am Tisch in der Stube, an dem man einander seine Geschichten erzählt und die Geschichten des Herrn, der seine Herrlichkeit und Erhabenheit aufgegeben hat, um mit uns zu sein, um mit uns seine Freude zu teilen und sein Leid, das nicht in der Verzweiflung endet, sondern in der Hoffnung, die eine Gewissheit ist. An diesem Tisch braucht es keine disziplinierte Vorleistung. Wir sind eingeladen, den Alltag miteinander zu teilen, an ihm wird das Alltäglichste, das Essen und Trinken, zum Heiligen, nicht weil es ein inszeniertes Ritual ist, sondern weil es in der Gegenwart des Höchsten geschieht.
1 Plüss, David: (2008) Der Gottesdienst ist kein Theater: [Rezension von] Ursula Roth, Die Theatralität des Gottesdienstes, in: Praktische Theologie, Bd. 43, Heft 3 (2008).
2 Roth, Ursula: Die Theatralität des Gottesdienstes (PthK 18). Gütersloh 2006
3 Der theatrale Aspekt wird in der katholischen Kirche noch dadurch verstärkt, dass der Priester während der Messfeier «in persona Christi» agiert, also zum Darsteller Jesu wird; in ihm ist Christus gegenwärtig und handelt selber.
Kunz vergleicht in diesem Aufsatz die inszenatorischen Ansätze eines Gottesdienstes am Zürcher Fraumünster mit denen einer Zürcher ICF-Celebration. Auffällig war ja auch, wie im freikirchlichen Bereich in den 1990er Jahren Gottesdienstformate entstanden, die sich mit ihren substanziellen popkulturellen Elementen zu musicalartigen Shows entwickelten.
5 veröffentlicht 2007 im Theologischen Verlag Zürich
6 Siehe dazu die aufschlussreiche und umfassende Studie des Berner Pfarrers Christian Walti «Gottesdienst als Interaktionsritual», Göttingen 2016.
Schreiben Sie einen Kommentar