Bibel: Mehr Mut zur Angst

In der Bibel werden Menschen immer wieder aufgefordert, keine Angst zu haben. Trotzdem ist es theologisch nötig, auch mal Mut zur Angst zu machen.

(Lesezeit: 6 Minuten)

(Bild: jplenio auf Pixabay)

Als Menschen können wir nicht nur über das Leben nachdenken, wir müssen das Leben immer auch leben. Das bedeutet: Wir müssen Entscheidungen treffen, wie sie ein Tier niemals treffen muss. 

Das dachte zumindest der dänische Philosoph und Theologe Søren Kierkegaard (1813-1855), als er sagte: « Man wird darum beim Tier Angst nicht finden, eben weil es in seiner Natürlichkeit nicht als Geist bestimmt ist.»

 

Die beiden Seiten unserer Freiheit

Die Freiheit zu entschieden und damit das Leben zu gestalten, erleben wir in der Regel positiv. Wir haben Wahlmöglichkeiten, es ist nicht alles vorgegeben. Kierkegaard meinte aber auch, dass es uns im Blick auf die vielen gewichtigen Entscheidungen schwindlig werden könne. Und nicht nur das: Diese Freiheit sei mit einer existenziellen Angst vor Fehlentscheidungen verbunden, die das Leben bedrohten. Angst sei gewissermassen der Preis unserer Freiheit.

In unserer heutigen Multioptionsgesellschaft stehen gerade junge Menschen unter einem hohen Entscheidungsdruck. Da gibt es so viel, was man tun, entdecken, lernen und lieben könnte. Wer hilft mir, richtig zu entscheiden? Was muss ich wissen oder ausprobieren, um die richtige Wahl zu treffen? Kann ich mich überhaupt «richtig» entscheiden?

Wer solche Gedanken zulässt, spürt sie dann und wann: die Angst vor der Freiheit. Die meisten Menschen spüren diese Angst nicht jeden Tag und schon gar nicht bewusst. Das ist auch gut so. Denn diese Angst kann uns lähmen oder gar krank machen. Aber manchmal meldet sie sich eben doch. In einem stillen Moment. Nachts, wenn wir nicht schlafen können; wenn wir enttäuscht sind, scheitern oder eine Entscheidung bereuen. 

 

Zwei typische Reaktionen ...

Eine gängige Reaktion darauf ist: Wir versuchen, diese Angst abzuschütteln, zu verdrängen, zu verleugnen. «Ich habe doch keine Angst!», versuchen wir uns einzureden. Nur nicht zu viel daran denken, dann verschwindet sie von alleine. Oder sich ablenken: «Wenn ich viel arbeite, habe ich keine Zeit für so schwerwiegende Gedanken. Ich bin immer unterwegs, dann kann mich die Angst nicht einholen.» Und wenn alles nichts nützt, können wir versuchen, die Angst zu betäuben – Suchtmittel gibt es ja zur Genüge. 

Eine zweite Reaktion auf die existenzielle Angst sucht absolute Sicherheiten. Personen, Überzeugungen, Ideen oder Positionen, die uns klar sagen, was richtig oder falsch, gut oder böse ist. In dieser Klarheit finden wir Orientierung und Sicherheit. Das hilft gegen die Angst, schränkt jedoch die Freiheit ein.

 

... und die fromme Version davon

Diese beiden Reaktionen – Verdrängung und die Suche nach absoluten Sicherheiten – gibt es auch in frommen Variationen. Der Glaube kann dazu dienen, die existenzielle Angst zu verdrängen. Die Logik lautet dann: «Wer glaubt, hat keine Angst.» Das ist ein verlockendes Angebot, funktioniert aber so nicht. Auch glaubende Menschen kennen Angst. Man lese dazu nur etwa die Psalmen.

Der christliche Glaube wird gelegentlich auch als absolute Sicherheit angeboten. Da gibt es auf alle Fragen und Unsicherheiten Antworten. Alles ist eindeutig und klar. Damit lassen sich die Menschen gut einteilen: Jene, die so denken und leben wie ich – und die anderen. Das gibt Sicherheit und hilft gegen die Angst vor Fehlern und falschen Entscheidungen. Man weiss ja, was richtig ist, was «man» macht und was nicht.

Mit der Angst leben lernen

Kierkegaard hat erkannt, dass diese existenzielle Angst – die Angst, dass das Leben nicht gelingt – eine treibende Kraft ist. Was aber rät er, um mit dieser Angst zu leben? Seine Antwort ist für einen Theologen nicht unerwartet: Glaube. Oder besser: Vertrauen. Dieses Vertrauen, von dem Jesus kurz vor seinem Tod spricht: »Erschreckt nicht, habt keine Angst! Vertraut auf Gott und vertraut auch auf mich!»1

Jesus spricht hier nicht von einem Glauben, der Angst verdrängt oder absolute Sicherheit bietet. Glaube ist die Einladung, sich der Person Jesu anzuvertrauen. Sich mit ihm auf einen Weg zu machen.

Quer durch die Bibel wird Menschen immer wieder zugerufen: «Fürchtet euch nicht!» oder «Habt keine Angst!» Das ist nie eine Aufforderung, die eigene Angst, den Zweifel oder die Unsicherheiten zu verleugnen. Dieser Zuspruch erfolgt meist in Situationen, in denen Gott mit Menschen neue Wege gehen möchte. «Hab keine Angst!» Das ist die Einladung, trotz Angst mit Gott Schritte zu wagen.

Eines der bekanntesten Zitate von Søren Kierkegaard lautet: «Man kann das Leben nur rückwärts verstehen, leben muss man es vorwärts.» Genau dazu braucht es das glaubende Vertrauen. Das Leben fordert immer wieder Schritte ins Unbekannte. Das Leben ist zerbrechlich und der Tod ein ständiger Begleiter. Wer daran nicht verzweifeln will, braucht Vertrauen. Diesen Glauben hat Kierkegaard als «Sprung» bezeichnet. Er beinhaltet den Mut zur Angst. Das Leben bleibt ein Wagnis, und wir haben keine Garantie, dass immer alles optimal und rund läuft.

 

Der dritte Weg

Auf Angst reagieren wir instinktiv mit Flucht oder Aggression. Vertrauen öffnet einen dritten Weg. Wir können es im Vertrauen wagen, uns mit dem zu beschäftigen, was uns Angst macht. Darin findet sich auch die Hoffnung, die – als Zwilling der Angst –, Gottes Zukunft erwartet. Der jüngst verstorbene Theologe Eberhard Jüngel meinte daher: «Eine Menschheit ohne Angst wäre doch wohl zugleich eine Menschheit ohne Hoffnung. Indem der Mensch zu hoffen wagt und indem er sich ängstigen muss, meldet er jeweils sein Recht auf Zukunft an.»

Die zähen Pandemiemonate haben zu einer gesellschaftlichen Polarisierung geführt. Kierkegaard würde vermutlich sagen: «Angst macht sich breit.» Wenn wir jedoch den Mut zur Angst aufbringen, müssen wir unsere Köpfe nicht im Sand verstecken. Unterschiedliche Meinungen führen auch nicht zum Krieg. Wir können stattdessen zu unserer Angst stehen, akzeptieren, dass manches unsicher ist und trotzdem immer wieder neu die Begegnung suchen. Vorwärts leben und Brücken zueinander bauen. Dieser Vertrauenssprung bleibt ein Wagnis. Aber da wartet einer, streckt seine Arme aus und sagt:  «Ich gebe euch den Frieden, meinen Frieden, nicht den Frieden, den die Welt gibt. Erschreckt nicht, habt keine Angst!«2

 

1  Johannes 14,1

2  Johannes 14,27

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