Ortsentwicklung: Das Beste für Dorf und Stadt

Wie können gläubige Christen in ihrem Umfeld etwas Konkretes bewirken? Im Livenet-Talk befragte Livenet-Chefredaktor Florian Wüthrich seine Gäste, «wie unser Umfeld von unserem Christsein profitieren kann». Die Talk-Gäste waren Mark Eberli, Stadtpräsident von Bülach, Johannes Reimer, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der Weltweiten Evangelischen Allianz und Hanspeter Schmutz, Koordinator des «Forums Integriertes Christsein». 

(Lesezeit: 8 Minuten)

«Ist es möglich, durch engagiertes Christsein die Kultur zu verändern, ja, vielleicht ein ganzes Dorf oder eine Stadt?», fragte Moderator Florian Wüthrich die Gesprächsrunde1.

 

Wie Christen zum Segen werden

Mark Eberli, EVP-Stadtpräsident von Bülach, arbeitet mit dem Lebensmotto «Suche der Stadt Bestes». Er ist seit 30 Jahren für die Stadt unterwegs, zuerst als Jugendarbeiter, dann in der Sozialarbeit und ab 2006 «auf der strategischen Ebene». Er wollte schon immer Bülach mitprägen mit dem Ziel: «Unsere Stadt ist ein Vorbild.» Aber auch selbst wollte er im Alltag christliche Werte leben: «Das hat mich geprägt.»

 

Ein geistlicher Sog

Johannes Reimer hat sich als Professor für Missionswissenschaft diesen Fragen jahrzehntelang gestellt. Der in der Sowjetunion geborene ehemalige Marxist und Jugendfunktionär hatte sich schon damals für das Gemeinwohl eingesetzt und war nach seiner Hinwendung zum christlichen Glauben überrascht, dass viele Gemeinden ein abgeschiedenes Leben führten und sich nicht fürs öffentliche Wohl interessierten. Er erkannte dann im Laufe seines Studiums, dass es auch Gemeinden gibt, die intensiv nach Wegen suchten, wie man als Christ das eigene Dorf oder die Stadt verändern kann.

25 Mal war er an der Gründung neuer Gemeinden beteiligt und erlebte ständig, dass das Interesse der Menschen an der Gemeinde wuchs, je stärker sich diese in der Öffentlichkeit engagierte. «So geschah eine sehr gesunde Gemeindeaufbauarbeit.» Für ihn ist klar, «dass man in einer Gemeindearbeit nicht für die Menschen da sein soll, sondern mit den Menschen zusammen am Gemeinwohl arbeiten muss – und dann entsteht auch ein geistlicher Sog».

 

Eine zweite Bekehrung

Hanspeter Schmutz leitet das «Forum Integriertes Christsein». Er arbeitete 27 Jahre bei der VBG, wo er das integrierte Christsein entdeckte – als Antwort auf New Age. Ihm wurde deutlich: «Wenn wir den Glauben mit allen Lebensbereichen verbinden, entsteht 'integriertes Christsein'.»

Ein befreundeter Theologe machte ihn auf das Dorf Steinbach in Oberösterreich aufmerksam. Anlässlich einer Exkursion dorthin erklärte der damalige Bürgermeister Sieghartsleitner der Gruppe die Grundsätze, mit denen das Dorf aus der Krise in eine Erneuerung gefunden hatte. Aufgrund einer persönlichen Berufung hatte er christliche Werte umgesetzt und das Dorf so neu aufgebaut.

Schweizer Besuch in Steinbach an der Steyr, ganz oben: Bürgermeister Karl Sieghartsleitner (Bild: Hanspeter Schmutz)

«Ich erlebte eine 'neue Bekehrung' zum Ort, wo ich lebe», stellt Schmutz im Nachhinein fest. Daraus entwickelte er das WDRS-Konzept (Werteorientierte Dorf-, Regional- und Stadtentwicklung), das es möglich macht, direkt in die Entwicklung (Transformation) einer Gemeinde einzugreifen. Schmutz hat dies zehn Jahre lang auch als Gemeinderat in Oberdiessbach «ausprobiert».

 

Betroffene zu Beteiligten machen

Auch Mark Eberli hat das Konzept von Steinbach schätzen gelernt. Ein zentraler Wert davon ist für ihn die «Partizipation»: Betroffene sollen zu Beteiligten werden. Er entwickelte Stadtateliers und Stadtwerkstätten, Online-Befragungen etc. So wurden die Leute abgeholt und ihre Meinung aufgenommen.

Vor 3 1/2 Jahren wurden Stadtwerkstätten durchgeführt und die Resultate sodann in die Legislaturplanung eingebaut. Das prägte die politische Kultur. Ebenso den Umgang miteinander, auch wenn das oft ein längerer Weg sei in einer Zeit, wo oft polarisiert wird. «Ich lebe das vor und fordere es auch ein. Wir können unterschiedlicher Meinung sein und in der Sache hart kämpfen – und doch fair bleiben.»  

Es gibt viele Brückenmühle

Johannes Reimer erklärte das Beispiel Brückenmühle, einer kleinen Gemeinde in Deutschland, in der wie in vielen andern das kulturelle Leben allmählich abgestorben war. Nach einem Sabbatjahr in Kanada empfing er die innere Berufung, in dieses Dorf zu ziehen «das noch nie eine Kirche gesehen hat». Das Dorf zählte damals rund 2000 Einwohner, drei Viertel davon Einwanderer, die keinen Kontakt zu den Einheimischen pflegten. Das wirtschaftliche und soziale Leben der Einwohner spielte sich im nahen Köln ab.

Ein Team nahm sich vor, Ekklesia zu sein, Herausgerufene aus dieser Welt, die sich für diese Welt einsetzen wollen. Ihre Losung hiess: «Wir sind Gottes Agenten der Transformation in diesem Ort.» Am Ende des Prozesses waren zahlreiche Infrastrukturen entstanden und rund 1000 Menschen getauft worden. 

Entstanden waren eine Arbeitsagentur, eine Volkshochschule, eine Ballett- und Tanzschule. Ebenso kleine Industriebetriebe. Das kulturelle Leben war ins Dorf zurückgekehrt. Es war nun schuldenfrei. Die Einheimischen und die Zugewanderten kamen in Kontakt miteinander. Das Dorf übernahm sogar das Motto: «Mit Gott die Zukunft entwickeln»!

 

«Zäme für Oberdiessbach»

Als Hanspeter Schmutz die Geschichte über Brückenmühle las, erkannte er Parallelen zum Steinbach-Konzept. Auch in der Schweiz gebe es Gemeinden, deren Struktur nach und nach bröckelt. Die Vereine verlieren die Mitglieder, niemand will sich mehr in der Politik engagieren. Hier brauche es Christen, die andere lieben wollen wie sich selbst. In Oberdiessbach nahm der Gemeindepräsident das Konzept auf und forderte Schmutz auf, vor verschiedenen Organisationen und Vereinen dazu zu referieren.

Der Präsident startete schliesslich eine wertorientierte Dorfentwicklung mit einer Kickoffveranstaltung zusammen mit einem Experten aus Linz sowie Workshops, Projektgruppen und einem Entwicklungsverein «Zäme für Oberdiessbach». Seither gibt es eine Plattform für Dorfentwicklung, an der auch viele Christen mitarbeiten.

 

Die Kultur studieren

Johannes Reimer legt grosses Gewicht auf die «Kulturentwicklung», die in einem ländlichen Gebiet ganz anders verläuft als in einem urbanen. Es gebe aber auch sehr unterschiedliche Dorftypen. Es gelte, jeweils die gemeinschaftsfördernden Elemente in der bestehenden Kultur herauszufiltern und sie mit christlichen Aspekten zu unterstützen – oder negative Elemente durch christliche Grundwerte zu ersetzen. Es sei wichtig, die «Kultur zu studieren».

 

Wie Evangelisation funktioniert

Mark Eberli erlebt, dass weiterhin etliche christliche Gemeinden stark mit sich selbst beschäftigt sind und wenig bereit sind, sich politisch zu engagieren. Einige, auch die Landeskirchen, engagieren sich bereits sozial. Trotzdem gebe es noch Luft nach oben.

Johannes Reimer hat erlebt, dass Gemeinde vor allem dort wächst, wo man sich für das Dorf interessiert – mehr als durch Gemeindeaufbaukonzepte. Es sei ein Missverständnis, dass Leute vor allem durch evangelistische Aktionen zum Glauben kommen. Er habe erlebt, dass Menschen Christen werden, weil sie das glaubwürdige, authentische und integrierte Leben von Christen sehen: «In Brückenmühle gab es keine einzige Evangelisation der klassischen Art.»

Hanspeter Schmutz spricht von einer Kreislaufbewegung. Es brauche Christen, die vor Ort das Quartier entdecken und dort den Leuten dienen. Dann merkten die Leute, woher die Werte und die Kraft kommen, so zu wirken. Wenn dann die Kirchen zu Evangelisationen und Glaubenskursen einladen, bestehe die Chance, dass Menschen zum Glauben kommen.

 

1 Diesen Livenet-Talk können Sie nachhören unter: https://www.youtube.com/watch?v=9emBi2V8wQY

Dieser Text erschien erstmals auf dem Livenet-Portal vom 14.10.2021: https://old.livenet.ch/magazin/gesellschaft/christen_in_der_gesellschaft/397622-wie_christen_die_gesellschaft_veraendern.html

www.dorfentwicklung.ch

Schreiben Sie einen Kommentar