Wie die (reformierte) Kirche eine Zukunft hat

Die Mitgliederzahl der evangelisch-reformierten Kirchen in der Schweiz betrug Ende 2019 etwa 2 Millionen. Eine stolze Zahl. Sie bedeutet aber eine Abnahme gegenüber dem Vorjahr um 18%. Und das ist ein Trend. Was dieser mittelfristig bedeutet, lässt sich leicht ausrechnen. Wache Kirchgemeinden fragen sich deshalb, wie ihre Zukunft aussehen könnte. Dazu im Folgenden einige Denkanstösse.

(Lesezeit: 14 Minuten)

Ärmer, älter, kleiner. So lauten die Prognosen der Religionssoziologen Stolz und Ballif für die Schweizer Reformierten. Ihr Anteil an der Schweizer Bevölkerung soll bis zum Jahr 2050 von derzeit 33 Prozent auf zwanzig oder weniger Prozent sinken1. Schuld daran seien gesellschaftliche Trends, welche die Reformierten nicht beeinflussen könnten. Dazu gehören die zunehmende Entflechtung von Kirche und Staat und die Bedeutung der medialen Vermittlung von Religion2.

Die heutige Evangelische Kirche der Schweiz (EKS) nahm die Studie als Grundlage für ihre kürzlich realisierte Verfassungsreform. Solche soziologisch basierten Reformen sind schön und gut, aber zu wenig, um das Überleben der Reformierten zu sichern. Dazu braucht es neben theologischen Überlegungen auch die Bereitschaft, sich von alten Lieblingsvorstellungen zu verabschieden.

Die Schwarze Kirche auf Island (Bild: Pixabay)

Eine dieser Lieblingsvorstellungen ist das Bild einer vermeintlich machtvollen Stellung in der Gesellschaft, das sich etwa im Begriff «Landeskirche» spiegelt. Um diese Nostalgie zu relativieren – und gleichzeitig Lösungsansätze für heute zu finden – lohnt sich ein Blick in die Kirchengeschichte.

 

Phase 1: Die Urgemeinde als Gegenkultur in einer heidnischen Umgebung

Bekanntlich starteten die Christen nach Pfingsten als kleine jüdische Sekte. Motiviert vom letzten Willen ihres Meisters3 trugen seine Jünger die gute Botschaft aber rasch über die Grenzen der jüdischen Kultur hinaus in alle gesellschaftlichen Bereiche und Kulturen der Antike.

Die christlichen Gemeinden verstanden sich dabei als Gegenkultur zum griechisch-römisch geprägten Mainstream der Gesellschaft. Das zeigte sich auch beim Eintritt4 in die christliche Gemeinde.

1) Der Einstieg in die Urgemeinde war bewusst verbunden mit dem Ruf zur Umkehr und einem neuen Denken.

2) Die Herausgerufenen lebten ihre Beziehung zum neuen Herrn und Retter radikal. Alle Bereiche ihres Lebens waren davon betroffen. Sie verstanden ihr Christsein als Lebensstil, verbunden mit der Umwertung aller Werte. Das neue Denken führte zu einem neuen Handeln.

3) Der Glaube an Jesus Christus war in der urchristlichen Gemeinde und auch im Verständnis von Jesus nicht nur – aber vom Ansatz her – zuerst eine persönliche Sache zwischen dem einzelnen Menschen und seinem Gott. Mit diesem Ansatz war der einzelne Mensch beim Glauben immer wieder in seiner Freiheit zur Entscheidung angesprochen.

 

Phase 2: Christliche Gemeinde in einer christlichen Kultur

Nach längeren Phasen der Verfolgung überzeugten die Christen mit ihren Werten und ihrer Botschaft schliesslich die sie umgebende heidnische Kultur. Die Ablehnung jeder Korruption hatte die Christen zu verlässlichen Partnern gemacht und ihnen – etwa in der Armee – die Türe zu einer raschen Karriere geöffnet.

Die römischen Herrscher erkannten die christliche Religion als sinnvoller gemeinsamer Nenner zur Absicherung ihres multikulturellen Weltreiches. Bei der Missionierung ihrer Untertanen halfen (christlich gesinnte) römische Soldaten, dies mit mehr oder weniger sanfter Überzeugungskraft. Nun war es gesellschaftlich plötzlich angesagt, Christ zu sein. Damit wurde der christliche Glaube gesellschaftsprägend. 

Gleichzeitig änderten sich aber auch die Eintrittsbedingungen zur christlichen Gemeinde.

1) Der Ruf zur Umkehr und zu einem neuen Denken wurde nun von der Regierung «von oben nach unten» verordnet.

2) Damit das neue Denken auch zu einem neuen Handeln führte, musste – weil der persönlich freie Entscheid oft fehlte – auch hier «von oben nach unten» Druck aufgesetzt werden.

3) In der Urgemeinde waren der persönliche Ansatz und die Wichtigkeit der eigenen Entscheidung prägend für die Lebendigkeit des Glaubens gewesen. Nun musste die Tradierung des christlichen Glaubens innerkirchlich mit festen Strukturen abgesichert werden. Man folgte dabei dem strategisch durchdachten und hierarchisch definierten Modell der römischen Armee und verliess somit die Vorgaben des neuen Testamentes mit seinen flachen Hierarchien. Die Existenz der Kirche war so gesichert, der persönliche Ansatz des Glaubens wurde aber immer weniger wichtig, ja mit der Zeit sogar verdächtig. 

 

Übergangsphase: Von der christlich geprägten zur postmodernen Gesellschaft

Trotz aller Fragwürdigkeit: Dieses Vorgehen wurde – kulturell gesehen – zu einer Erfolgsgeschichte. Sie geriet erst durch den Zusammenbruch des römischen Reiches in Gefahr. 

Die nachrückenden Germanen5 brachten das Heidentum zurück in die römischen Gebiete. Es erlebte v.a. im breiten Volk eine neue Blüte, nach der keltischen nun in der germanischen Form. Erst die irischen Mönche schafften mit ihrer dezentralen Missionierung eine Neu-Christianisierung Europas (und der Schweiz). Als die irisch geprägten Gemeinschaften an Kraft verloren, übernahmen in der Regel die gut strukturierten Benediktiner ihre Klöster und brachten sie zu neuer Blüte. Damit verbunden war aber auch die Wieder-Anbindung an die römische Kirche.

Mit der Reformation wurde das Bild der von Rom gesteuerten kirchlichen Einheit definitiv erschüttert. Die Reformatoren verstärkten die enge Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat, diesmal aber in einem regionalen und damit besser kontrollierbaren Rahmen. Im Sonntagsgottesdienst wurden von der Kanzel die neusten Mandate der Obrigkeit verkündet, lokale Chorgerichte sorgten für die alltägliche Disziplin der Bevölkerung. 

Dieses Kirchenverständnis wurde aber, sozusagen als Nebenwirkung der Reformation, zunehmend von freikirchlichen Bewegungen wie den Täufern und teilweise auch den Pietisten gestört.

Der Zerfall einer christlich geprägten Gesellschaft hatte aber schon längst eingesetzt. Mit der Aufklärung taten sich Gräben auf zwischen wissenschaftlichen und religiösen Deutungen der Wirklichkeit – bis hin zur Auslegung der Bibel. Sie wurde entmystifiziert und zunehmend zum Spielball der gerade aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen.

In der Postmoderne (ab Ende der 1950er Jahre) wurde die an der Vernunft orientierte gemeinsame Klammer der Gesellschaft gelockert. Sie löste sich auf in unzählige an Interessen orientierte Gruppen und Rollen. Die sozialen Medien brachten diese Vielfalt der Gesinnungen gut zum Ausdruck, förderten damit aber die Isolation in abgeschlossenen Blasen und gefährdeten gleichzeitig die an Fakten orientierte Diskussion, wie sie von Qualitätsmedien mit einem öffentlichen Auftrag vertreten wurde.

 

Phase 3: Kirche in einer nachchristlichen Kultur

Diese Umbrüche gingen auch an der Kirche, die ja einen Auftrag an allen Bevölkerungsgruppen hat, nicht spurlos vorbei. Das zeigt sich auch in den bekannten drei Eintritts-Kriterien.

1) Der Ruf zur Umkehr erfolgt heute durch die Kasualien6, Jugend- und Erwachsenenbildung, Seelsorge und Gottesdienste.

2) Das christliche Denken und Handeln pendelt – je nach Kirchgemeinde – zwischen Anpassung an die Gesellschaft und dem Versuch eines Gegenentwurfes.

3) Und die Gestaltung des Glaubens geschieht in der Spannung zwischen Gemeinschaft und Individualismus.

Formell gesehen gehört zur schweizerischen reformierten Kirche, wer die Kirchensteuer bezahlt. Ein Bekenntnis – zum Beispiel eine Konfirmation – ist nicht vorausgesetzt. Die Mitgliedschaft bei einer Kirche ist heute eine Art Dienstleistungsvertrag, der je nach Lust und Laune problemlos aufgelöst werden kann. Solange das Geld – wie bei den Berner Reformierten – noch ausreichend fliesst, könnte man sich eigentlich zurücklehnen. Und doch bleibt ein ungutes Gefühl. 1993 liessen die Kirchen deshalb die religiöse Situation in der Schweiz untersuchen7. Spätere Untersuchungen8 beschrieben den Zerfall der Gesellschaft in bis zu zehn soziale Milieus. 

Die erste grössere religionssoziologische Studie von Stolz u.a. unterschied 1993 fünf religiöse Typen:

  • Humanisten ohne Religion

Gut meinende Menschen, denen eine Kirche gefällt, die sich für soziale Ziele und die Menschenrechte einsetzt.

  • religiöse Humanisten

Sie denken ähnlich, begründen dies aber mit ihrer religiösen Einstellung.

  • Neureligiöse

Ihre spirituelle Sensibilität stillen sie mit esoterischen und mit Angeboten des fernöstlichen religiösen Marktes. Die Kirche hat ihnen wenig bis nichts zu bieten.

  • allgemein religiöse Christen

Für sie ist eine christliche Grundlegung des Lebens wichtig. Sie benutzen als Kulturchristen die Kirchen für Kasualien und an hohen Festtagen, um sich dieser Grundlage zu versichern.

  • exklusive Christen

Sie erinnern am ehesten an die erste Phase der christlichen Kirche. Weil sie die Kirchen oft als zu oberflächlich empfinden, trifft man sie oft in klarer definierten Freikirchen. Manchmal treffen sie sich aber auch einfach in einer frommen Blase mit Freunden, die der eigenen Exklusivität entsprechen.

Wie kann die Kirche der Zukunft dieser zersplitterten Gesellschaft gerecht werden?

An Christus hängt die Zukunft der Kirche (Bild: Pixabay)

Die Kirche der Zukunft hängt an Christus

Die (reformierte) Kirche der Zukunft muss sich mit ihrem Kern beschäftigen. Von der Urkirche sollte sie wieder lernen, dass Christsein nicht (nur) ein kulturelles Merkmal ist, sondern eine Entscheidung für Jesus Christus als Zentrum des Lebens und für einen Weg mit ihm, der allein und in Gemeinschaft mit andern gelebt wird.

Dieser Kern ist aber auch theologisch zu verstehen. In einer Gesellschaft der Beliebigkeit gilt es, die alten biblischen Wahrheiten neu auf den Leuchter zu stellen und zu erklären, was damit gemeint ist. Wir können diese Wahrheiten an den kirchlichen Festtagen festmachen: am Erntedankfest wird Gott als Schöpfer gefeiert; an Weihnachten die Tatsache, dass Gott Mensch geworden ist; an Karfreitag, dass er durch das Opfer seines Sohnes jedes Menschenopfer9 zur Erlangung der Gerechtigkeit vor Gott überflüssig gemacht hat; an Ostern, dass dieser Jesus lebt und dass unser persönliches Annehmen dieses Angebotes die Tür öffnet zu einem Weg in eine immer grössere Wahrheit und zum ewigen Leben10; an Auffahrt, dass Jesus früher oder später zurückkommen wird und an Pfingsten, dass der Heilige Geist uns in unserm Alltag und als Kirche mit seinem Rat begleiten will.

An diese theologischen Tatsachen soll die Kirche erinnern, sie feiern und so lebendig machen. Weil sie mit vielen unentschlossenen, unsicheren oder einfach nur neugierigen Zuhörern rechnen muss und darf, sollte sie zudem immer wieder Entscheidungssituationen für den Glauben schaffen – über die Kasualien hinaus. Und sie muss – zusammen mit ihren Mitgliedern – lernen, alle Lebensbereiche vom Zentrum, von Christus her prägen zu lassen, als lebenslanger Prozess und in aller Unvollkommenheit11.

Welche Gestalt die Kirche der Zukunft haben wird, hängt stark von der örtlichen Situation ab. Sie kann sich an der Urkirche mit ihren Hausgemeinden orientieren, an den irischen Mönchen (und andern katholischen und reformierten Orden) mit ihren verbindlichen Wohngemeinschaften oder am traditionellen Bild der Kirche im Dorf, ergänzt von, aber nicht ersetzt durch virtuelle Formate via Internet. Die Gestalt der Kirche kann sich ändern. Christus aber bleibt bis in alle Ewigkeit. 

Deshalb gilt: Die Kirche kann nur überleben, wenn sie eng mit Christus verbunden bleibt und seinen Auftrag ernst nimmt.

 

Der Tempel als Modell der Kirche

Was das heissen könnte, hat Wolfgang J. Bittner am Modell des alttestamentlichen Tempels gezeigt12.

  • Zuinnerst ist das Allerheiligste – die Gegenwart Gottes, die im Abendmahl ein Stück weit greifbar wird, aber auch im alltäglichen Hören auf ihn. Eine Kirchgemeinde ohne diesen Kern hat keine Zukunft, weil sie ohne Christus auskommt.
  • Im Vorhof befindet sich das Volk Gottes, neutestamentlich gesprochen die «Kerngemeinde», Menschen also, die sich von Christus herausrufen und in seine Gemeinde einpflanzen lassen und ihm (oft zaghaft) nachfolgen wollen.
  • Erstaunlicherweise gehört zum Tempel auch ein zweiter Vorhof – der Vorhof der Völker. Hier befinden sich die am christlichen Glauben interessierten Menschen, ganz egal, welchem religiösen oder sozialen Milieu sie angehören.
  • Und schliesslich gibt es auch noch die Menschen ausserhalb der Tempelmauern: die allgemein spirituell Interessierten, kirchlich Distanzierten, Gleichgültigen oder anders Suchenden.

Meine Pointe für dieses Modell aber heisst nun: Die Kirche und wir als Einzelne sollte in allen diesen vier Bereichen präsent sein. 

Als einzelne Gläubige in einer intimen Beziehung zum dreieinen Gott sowie über unsere persönlichen Beziehungsnetze verbunden mit allen drei Gruppen (Kerngemeinde, christlich Interessierte und kirchlich Distanzierte). Diesen Menschen sollten wir angemessen und begabungsgemäss dienen und den christlichen Glauben in ihre jeweilige Sprache übersetzen.

Als Kirche sollten wir aber auch christlich inspirierte Angebote haben, welche auf die verschiedenen Gruppen zugeschnitten sind13: Angebote, welche die intime Beziehung zu Gott fördern, die Kerngemeinde stärken, herausfordern und begleiten; aber auch Angebote für christlich Interessierte wie auch für kirchlich Distanzierte. Das bedingt, dass wir nicht nur die Gemeinschaft nach innen pflegen, sondern auch hinausgehen – bis in die Gegend ausserhalb der Kirchenmauern. Und den Menschen über unsere Beziehungsnetze und darüber hinaus mit unserm Glauben dienen, ohne ihn zu verschweigen14.

 

1 Studie der Religionssoziologen Stolz und Ballif, u.a. in der «NZZ am Sonntag» vom 4.4.10 besprochen. Siehe: Stolz, Jörg und Ballif Edmée. «Die Zukunft der Reformierten.» Zürich, 2010, TVZ

2 Die Katholiken mit ihren klaren – u.a. auch sakralen – Strukturen und einem gut sichtbaren Papst an der Spitze haben hier und in andern Bereichen Vorteile. Sie müssten deshalb, zumindest für die jüngere Zeit, separat besprochen werden.

3 Matthäus 28,18-20

4 In den ersten beiden Phasen folge ich den Thesen des Theologen Wolfgang J. Bittner

5 in der deutschen Schweiz waren es die Alemannen

6 Taufe, Konfirmation, Hochzeit, Beerdigung

7 Dubach, Alfred und Campiche Roland J. (Herausgeber). Jede(r) ein Sonderfall? Zürich, 1993, NZN Buchverlag

8 siehe 1

9 Menschenopfer sind typisch für ein heidnisches Weltbild: der Mensch opfert (sich), um sich mit einer übergeordneten Macht zu versöhnen. Moderne Formen davon, gegen die Christen kämpfen sollten, sind etwa das Akzeptieren von Verkehrsopfern, Opfer für die Leistungsgesellschaft oder Kriegsopfer.

10 Johannes 14,6

11 siehe das Modell des integrierten Christseins, etwa hier: https://www.insist-consulting.ch/_Resources/Persistent/e/7/e/c/e7ec1293e837b931a06ce40b36ff04672d09a866/bausteine_zum_thema_integriertes_christsein.pdf

12 Wolfgang J. Bittner. «Kirche – das sind wir!» Neukirchen-Vluyn, 2003, Aussaat-Verlag

13 von Glaubenskursen, Gottesdiensten und thematischen Angeboten für unterschiedliche Zielgruppen, Stammtischen für Skeptiker, Fresh Expressions von Kirche, christlichen Meditationskursen bis hin zum (falls es das gibt) christlichen Yoga

14 Dazu verhilft etwa der Ansatz einer werteorientierten Ortsentwicklung, siehe den Beitrag «Ortsentwicklung: Das Beste für Dorf und Stadt» oder www.dorfentwicklung.ch

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Kommentare

Samuel Leuenberger schreibt
am 11. November 2021
Dieser Artikel zeigt deutlich den Kern, den die reformierte Kirche permanent in der Verkündigung und im Handeln im Auge behalten muss, um überleben zu können.
Der skizzenartig gebotene Aufriss der verschiedenen Phasen der Kirchengeschichte scheint mir sehr gut zu sein. Vielen Dank für diesen Artikel mit seiner hilfreichen Herausforderung!