Medizin: Selbstbestimmtes Sterben als neues medizinisches Paradigma

Durch medizinische Massnahmen kann der Tod immer mehr hinausgeschoben werden. Das führt zu komplexen Entscheidungssituationen am Lebensende. Sterben geschieht nicht mehr einfach von selbst, es ist vielmehr häufig Folge vorausgehender Therapieentscheidungen. Selbstbestimmtes Sterben wird zum Normalfall – eine Ausweitung unserer Freiheit, die zu einer Zumutung und Überforderung werden kann, wenn wir uns nicht damit auseinandersetzen.

(Lesezeit: 8 Minuten)

Die Errungenschaften moderner Medizin zur Erhaltung und Verlängerung des Lebens sind beeindruckend. Früher tödlich verlaufende Krankheiten können heute so weit bekämpft werden, dass Patienten weiter am Leben bleiben können. Durch die Vielfalt dieser medizinischen Möglichkeiten ergeben sich am Lebensende immer mehr Entscheidungssituationen1. Soll man den Sterbeprozess aufhalten oder ihn seinen Lauf nehmen lassen? Soll man die Lungenentzündung einer 96-Jährigen noch mit Antibiotika behandeln oder die Niereninsuffizienz eines 89-Jährigen mit einer Dialyse angehen? Welcher Preis an allenfalls zunehmender Gebrechlichkeit, Abhängigkeit und Einschränkungen ist einer Patientin dadurch zuzumuten, dass ihr Tod durch eine Reanimation verhindert wird? Solche Fragen stellen sich heute alltäglich. Sie zu beantworten, ist anspruchsvoll und stellt eine ethische Herausforderung dar – für Ärzte, Pflegende, aber natürlich vor allem auch für die Betroffenen selbst.

(Bild: silviarita auf Pixabay)

Der Tod kommt nicht mehr von selbst

Sterben – früher Inbegriff der Erfahrung eines fremdverfügten Schicksals – wird zunehmend zum Gegenstand eigenen Entscheidens. Der Tod ist immer weniger Folge eines unerwarteten Schicksalsschlages, sondern immer häufiger Konsequenz bewusster Therapieentscheidungen. Nach neusten Untersuchungen erfolgt das Sterben in 58,7 % der medizinisch begleiteten Todesfälle in der Schweiz erst, nachdem entsprechende Entscheidungen gefällt worden sind. Dabei geht es nicht um assistierten Suizid, sondern um Entscheidungen zum Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen.

Der Entscheid in solchen Fragen muss bei der betroffenen Person selbst liegen, weil nach dem Prinzip der Patientenautonomie nur ihr das Recht zukommt, über medizinische Eingriffe am eigenen Leib zu befinden. Und wenn sie nicht mehr selbst entscheiden kann, müssen vertretungsberechtigte Personen2 bestimmen, was der mutmassliche Wille der Patientin oder des Patienten ist. Dieser ist dann für das medizinische Personal therapieentscheidend und verbindlich. Das heisst: In vielen Fällen ist Sterben heute nicht mehr einfach eine Entscheidung der Natur, des Schicksals, des Arztes oder des «Herrn über Leben und Tod». Wir müssen die Entscheidung über den Tod heute immer häufiger in die eigenen Hände nehmen, auch wenn wir keinen Suizid begehen wollen.

Der Soziologe Reimer Gronemeyer hält pointiert fest: «Das ist das Neue: Der Tod kommt nicht mehr, sondern er wird zur letzten Gestaltungsaufgabe des Menschen.» Und weiter: «Sterben wird planbar – das ist ein Grundzug der modernen Gesellschaft.» Die Frage ist dabei gar nicht, ob wir das gut finden oder nicht. Es ist einfach so, es ist Teil der Rahmenbedingungen des Sterbens im Rahmen heutiger Medizin.

 

Freiheit oder Überforderung?

Jedem Individuum wird heute ein Mass an Selbstbestimmung im Blick auf sein Sterben zuerkannt, das früher nicht denkbar war. Wir werden zur Freiheit eigenen Entscheidens im Blick auf unser Sterben genötigt. Und weil wir alle damit rechnen müssen, am Ende des Lebens in eine Situation der Urteilsunfähigkeit zu geraten, in der wir nicht mehr selber entscheiden können, stellt sich die Herausforderung, rechtzeitig zum Beispiel durch eine Patientenverfügung vorzusorgen, vorausschauend unsere Selbstbestimmung im Blick auf medizinische Lebensende-Situationen wahrzunehmen.

In der christlichen Tradition galt lange und vielerorts noch bis heute die Haltung, über den Zeitpunkt des Sterbens eines Menschen befinde alleine Gott. So heisst es oft in den Todesanzeigen, Gott habe die Verstorbene zu sich gerufen. Das ist eine gut gemeinte, aber gedankenlose religiöse Rede, die den Namen Gottes missbraucht. Gott ist nicht damit beschäftigt, wie ein Buchhalter das Lebensende der Menschen zu planen und zu terminieren. Weil Gott uns Menschen die Freiheit zu wissenschaftlich-technischer Weltgestaltung mitgegeben hat, kam es zur Entwicklung einer modernen Medizin, durch die wir den Tod immer weiter hinausschieben und damit in hohem Mass selber bestimmen können, zu welchem Zeitpunkt wir das Sterben zulassen und auf welche Art wir unser Leben beenden wollen. Wie wir das verantwortlich tun sollen, schreibt uns Gott nicht vor. Denn Gott will unsere Freiheit. 

Es gehört darum auch zu einer christlichen Spiritualität, sich rechtzeitig im Leben mit der Frage auseinanderzusetzen, wie und unter welchen Umständen wir gegebenenfalls einmal das Leben loslassen wollen und zu sterben bereit sind und in welchen Situationen wir gegen den Tod ankämpfen und unser Leben verlängern wollen. Sich rechtzeitig – etwa im Gespräch mit Angehörigen – darüber Gedanken zu machen, kann helfen, diese uns zugewachsene Aufgabe nicht als Überforderung, sondern als Chance der Freiheit zu erleben. Und wenn wir lernen, schon im Leben zu bedenken, dass unser Leben endlich ist und auf das Sterben zugeht3, wird es uns eher gelingen, so achtsam zu leben, dass wir dereinst, wie es in der Bibel etwa von Abraham heisst, «lebenssatt»4 sterben können: im dankbaren Empfinden, dass das Leben lange genug gewährt hat und wir jetzt (im wörtlichen Sinne!) abdanken können, ohne unser Leben immer noch mehr unter Ausschöpfung aller medizinischen Möglichkeiten in die Länge zu ziehen.  

 

Aktive und passive Selbstbestimmung

Natürlich gehört zu wahrhaft menschlichem Leben nicht nur das aktive Planen, Entscheiden und Tun – die «Machsal» –, sondern auch das Zulassen von Dingen, die einem widerfahren, in diesem Sinne das «Schicksal». Erfülltes Menschsein besteht in einem Ineinander von Schicksal und Machsal, von Zulassen und Selbstbestimmung, von Passivität und Aktivität. Das gilt auch für ein humanes Sterben.

So stehen wir heute vor der doppelten Herausforderung im Blick auf das Sterben, die uns zugemutete Freiheit und Verantwortung wahrzunehmen und zugleich offen zu bleiben für Prozesse am Lebensende, die wir nicht selbst in der Hand haben, sondern die uns widerfahren. Der Hinweis des Philosophen Wilhelm Schmid ist wichtig: «Selbstbestimmung ist ein aktiver ebenso wie ein passiver Prozess, ein Tun ebenso wie ein Hinnehmen und Lassen, ein eigenes Gestalten wie auch ein Sicht-Gestaltenlassen von anderen, von Umständen und Situationen.» Dass beide Akzente zum Zuge kommen können, sollte Ziel für das persönliche Zugehen auf unser eigenes Sterben wie auch für alle Begleitung und Betreuung von Sterbenden sein. Das gilt auch theologisch: Gott gibt uns weitgehend die Freiheit, selber über Art und Zeitpunkt unseres Sterbens zu bestimmen.

 

1  medical end-of-life decisions

2 nach Art. 378 ZGB

3 Psalm 90,12

4 1. Mose 25,8

Hinweis: Da unsere Medizin-Kolumnistin Ruth Baumann-Hölzle verhindert war, hat Heinz Rüegger mit seinem Beitrag diese Lücke freundlicherweise bestens gefüllt.

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Kommentare

Thomas Bucher schreibt
am 30. Oktober 2021
Ein für mich sehr passender Artikel. Ich war gestern an der Abdankung meines 98 1/2 jährigen Schwiegervaters. Seine zurückbleibende, gleichaltrige Frau, konnte nicht teilnehmen. Zu schwach.
Am Beispiel meiner Schwiegereltern erlebten wir genau diese Fragen, die Heinz Rüegger aufbringt. Abwägen, was wann noch oder nicht mehr getan werden kann und soll und das frühzeitig und in christlicher Freiheit tun, wird gegebenenfalls zu einem würdigen Ende führen. Wenn es dann nicht ganz anders kommt, wie bei einem Freund, der mit etwas über 70 in den letzten Wochen wegen eines gerissenen Aneurysmas verstorben ist.
Thomas Bucher